Bindungswirkung eines nur teilweise aufgehobenen Strafurteils

Wird ein Strafurteil nur hinsichtlich des äußeren Tatgeschehens aufrechterhalten, muss die Motivation und das innere Erleben des Täters in der Hauptverhandlung erneut festgestellt werden. Der Bundesgerichtshof hob ein Urteil auf, weil es sich auf ein Gutachten stützte, in dem die Sachverständige Tatsachen als gegeben voraussetzte, die nicht von der Bindungswirkung erfasst waren. Den Angeklagten erwartet nun die vierte Verhandlung in seiner Sache.

Psychisch kranker Mann legt sich auf Mitpatientin

Ein 27-jähriger wurde 2019 in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Einige Tage später legte er sich nackt auf eine schlafende Mitpatientin und ließ erst von ihr ab, nachdem ihr Pfleger zur Hilfe geeilt waren (Anlasstat). Auch danach hatte er sich sexuell übergriffig und gewalttätig verhalten. Das Landgericht Magdeburg ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Auf die Revision des Mannes hin wurde das Urteil aufgehoben, zurückverwiesen und erneut der Maßregelvollzug angeordnet. Auch dieses Mal griff der Mann das Urteil erfolgreich an. Der BGH hatte bei beiden Beschlüssen die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten. Das nun zuständige LG Dessau-Roßlau stellte – sachverständig beraten – fest, dass der Mann an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leide, die seine Schuldfähigkeit nicht ausschließe. Da die Richter aber davon ausgingen, dass er keine weiteren erheblichen Straftaten begehen würde, lehnten sie seine Unterbringung ab. Die Staatsanwaltschaft erhob erfolgreich die Revision zum BGH.

Hat die Erkrankung ihn zur Tatzeit steuerungsunfähig gemacht?

Der 6. Strafsenat vermisste in dem nunmehr dritten Urteil in der Sache Feststellungen darüber, ob und in welcher Weise sich die psychische Krankheit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Mannes ausgewirkt hat, als er sich auf die schlafende Frau legte. Die Karlsruher Richter vermuteten, dass die Strafkammer die Bindungswirkung des vorinstanzlichen Urteils nach § 358 Abs. 1 StPO verkannt habe: Die aufrechterhaltenen Feststellungen des äußeren Tatgeschehens umfassten nicht die Tatmotivation und auch nicht das innere Erleben des Mannes. Die erneute Untersuchung durch eine Sachverständige ändere daran nichts, weil sich diese ausdrücklich auf die – aufgehobenen – Feststellungen des Magdeburger Urteils gestützt und sich keine eigene Meinung dazu gebildet hatte. Da Schizophrenie aber nicht per se zur Schuldunfähigkeit führe, seien Feststellungen darüber, ob der Mann zur Tatzeit einsichtig und steuerungsfähig war, unentbehrlich. Für die vierte Verhandlung empfiehlt der BGH, dem Sachverständigen nach § 78 StPO dezidiert zu erklären, welche Tatsachen dem Gutachten zugrunde zu legen sind und welche nicht.

BGH, Urteil vom 24.08.2022 - 6 StR 100/22

Redaktion beck-aktuell, 14. September 2022.