BGH bestätigt Abkehr von "taggenauer Berechnung" des Schmerzensgelds

Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 22.03.2022 seine Abkehr von der "taggenauen Berechnung" des Schmerzensgelds bestätigt. Auch als "Plausibilitätskontrolle" bei Dauerschäden sei sie ungeeignet. Er betonte weiter, dass grob fahrlässiges Verhalten eines Arztes die Entschädigungssumme zwar erhöhen könne. Ein grober Behandlungsfehler bedeute aber noch nicht, dass auch grobe Fahrlässigkeit vorliegen müsse.

Erhöhtes Risiko einer Uterusruptur

Eine Jugendliche hatte einen Arzt wegen unzureichender Aufklärung ihrer Mutter vor ihrer Geburt auf Zahlung von Schmerzensgeld von 680.000 Euro verklagt. Bei dem Notkaiserschnitt im Jahr 2006 hatte sie einen schweren Hirnschaden erlitten. Seitdem ist sie vollständig und dauerhaft pflegebedürftig. Die Geburt war zunächst mithilfe von Prostaglandin eingeleitet worden, als es zu einer Uterusruptur kam. Bei ihrer Mutter war bereits im Jahr 2003 ein Kaiserschnitt durchgeführt worden. Der Mediziner wurde im Juli 2017 dem Grunde nach verurteilt, dem Teenager jeden künftigen materiellen und immateriellen Schaden aus ihrer Geburt zu ersetzen. Er hätte ihre Mutter wegen des erhöhten Risikos einer Uterusruptur bei vaginaler Geburt nach vorausgegangenem Kaiserschnitt und bei einer Einleitung mittels Prostaglandin alternativ über einen Kaiserschnitt aufklären müssen. Der Arzt zahlte im November 2017 400.000 Euro (300.000 Euro Schmerzensgeld und 100.000 Euro Pflegeleistungen). Das LG Mainz sprach ihr 500.000 Euro Schmerzensgeld abzüglich der gezahlten 300.000 Euro zu. Das OLG Koblenz sah die Summe als angemessen und ausreichend an. Denn obwohl sie sich ihrer Beeinträchtigung bewusst sei, bleibe das Gesamtbild ihrer Erkrankung hinter anderen Fallgestaltungen zurück, in denen die Kinder lebenslang nicht über den Entwicklungsstand eines Säuglings hinauskämen und eine Kommunikation kaum möglich sei. Die Revision der Betroffenen beim BGH blieb ohne Erfolg (Az.: VI ZR 16/21).

Bemessung ist nicht zu beanstanden

Der VI. Zivilsenat bestätigte die Bemessung des Schmerzensgeldes durch das OLG (§ 287 ZPO). Eine "taggenaue Berechnung" des Schmerzensgeldes mit einem Tagessatz von 40 Euro für Dauerschäden – wie von der Geschädigten verlangt – ist laut den Karlsruher Richtern ungeeignet, eine einheitliche Entschädigung aufgrund einer Gesamtbetrachtung zu liefern. Der Tatrichter könne bei der Bemessung je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit Abstufungen vornehmen. Nicht zu beanstanden sei, dass das OLG im Ergebnis dem Gesichtspunkt des Verschuldens des Arztes keine das Schmerzensgeld maßgeblich erhöhende Funktion zugewiesen habe. Auch in Arzthaftungssachen komme dem Gesichtspunkt der Genugtuung grundsätzlich Bedeutung zu. Grob fahrlässiges Verhalten eines Arztes könne die Entschädigungssumme zwar erhöhen. Ein grober Pflichtverstoß für sich allein lasse jedoch noch nicht den Schluss auf ein entsprechendes gesteigertes persönliches Verschulden zu. Der Umstand, dass das OLG nicht zwischen einem groben ärztlichen Fehler und einem hohen Grad des Verschuldens differenziert habe, führe aber nicht zu einer fehlerhaften Bemessung des Schmerzensgeldes. Denn der Arzt habe sich nicht über einen ausdrücklichen Wunsch nach einem Kaiserschnitt hinweggesetzt, sodass es keinen Anlass gegeben habe, sein Verhalten schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen.

BGH, Urteil vom 22.03.2022 - VI ZR 16/21

Redaktion beck-aktuell, 28. April 2022.