In Fußgängergruppe gefahren und geflüchtet
Ein Mann fuhr nachts mit seinem Pkw auf einer unbeleuchteten Landstraße mit 70 km/h. Er konzentrierte sich kurzzeitig darauf, im Dunkeln die Asche seiner Zigarette im Aschenbecher abzustreifen, und übersah eine vierköpfige Personengruppe, die am rechten Fahrbahnrand auf dem Seitenstreifen hintereinander entlanglief. Er streifte zwei von ihnen, von denen einer noch an der Unfallstelle verstarb. Nach den Feststellungen des Landgerichts Heilbronn hätte noch eine geringe Überlebenschance für ihn bestanden, wenn sofort ärztliche Hilfe geleistet worden wäre. Der Unfallfahrer fuhr aber davon, um seinen Fahrfehler zu kaschieren. Er flüchtete, obwohl er es für möglich hielt, dass die angefahrenen Personen lebensgefährlich verletzt waren, aber noch gerettet werden könnten. Das Landgericht verurteilte ihn unter anderem wegen zweifachen versuchten Mordes (durch Unterlassen) zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe. Der Autofahrer erhob Revision zum Bundesgerichtshof und stützte sich dabei auf die Rechtsprechung des 5. Strafsenats.
Wann liegt der Versuch eines unechten Unterlassungsdelikts vor?
Der 4. Strafsenat sieht hier den versuchten Mord durch Unterlassen bereits dann verwirklicht, wenn der Täter es für möglich hält, dass er den Eintritt des Todes durch eigene zumutbare Maßnahmen verhindern kann. Der 5. Strafsenat hingegen verlangt dafür das Unterlassen des rechtlich gebotenen Handelns in dem Bewusstsein, dass der Rettungserfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten werde. Weil der 4. Strafsenat beabsichtigt, die Revision des Autofahrers zu verwerfen, sich aber durch die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 28.06.2017 – 5 StR 20/16 (NJW 2017, 3249) daran gehindert sieht, hat er beim 5. Senat angefragt, ob dieser an seiner Rechtsprechung festhalte.
Vermengung Beweis hypothetischer Kausalität mit Vorsatz
Der 4. Strafsenat ist der Ansicht, dass der 5. Strafsenat in seiner Entscheidung, in der es um die illegale Verteilung von Leberspenden ging ("Göttinger Organspendeskandal"), die hypothetische Kausalität mit Vorsatzfragen vermischt hat: Die hypothetische Frage, ob die benachteiligten Patienten ohne die Manipulation der Organverteilung überlebt hätten (Quasi-Kausalität), sei eine zu beweisende Tatfrage. Sie dürfe nicht mit der Frage verwechselt werden, ob der Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hätte. Würde man dieselben Anforderungen an den Vorsatz stellen, verengte man den Vorsatz in seinem Wissenselement in Unterlassungsfällen auf den dolus directus 2. Grades – das sichere Wissen um den Erfolgseintritt. Ein bedingter Vorsatz, wonach der Täter den Erfolgseintritt nur für möglich hält und ihn billigend in Kauf nimmt, wäre nach einer solchen Definition nicht mehr möglich.