Anforderungen an Sachvortrag zu medizinischen Fragen

Berücksichtigt ein Gericht den Vortrag eines Bestreitenden wegen mangelnder Substantiierung in offenkundig unrichtiger Weise nicht, liegt darin ein Gehörsverstoß. Laut Bundesgerichtshof dürfen an Einwendungen der sachunkundigen Partei gegenüber einem medizinischen Privatgutachten nur maßvolle Anforderungen gestellt werden. Dabei dürfe sich das Gericht nicht ohne Beweisaufnahme über den Vortrag des Bestreitenden hinwegsetzen.

Reitanfängerin wird vom Pferd geworfen

Eine Frau verklagte ihre Reitlehrerin und gleichzeitige Inhaberin des Hofs nach einem Reitunfall auf Schadensersatz. Die erste Reitstunde fand am 12.09.2014 nach einer Einführung in der Halle an der Leine - der so genannten Longe - statt. In der zweiten Reitstunde eine Woche später führte die Beklagte (laufend) die Klägerin (auf dem Pferd sitzend) um eine neben dem Reiterhof liegende Weide. Der Weg grenzte teilweise an ein Wohngebiet an. Auf dem Rundgang ließ die Trainerin das Tier los. Als eine Anwohnerin Herbstlaub aus einem Korb ausschüttete, erschreckte sich das Pferd durch das Rascheln der Blätter. Es machte mehrere Galoppsprünge, wodurch die Reiterin zu Boden stürzte und sich unter anderem Knochenbrüche an Brust- und Lendenwirbel zuzog.

OLG: Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht ausreichend bestritten

Das LG Potsdam gab der Klage dem Grunde nach größtenteils statt und verurteilte die Geschäftsfrau zur Zahlung von 32.862 Euro Verdienstausfallschaden. Das OLG Brandenburg wies die Berufung der Beklagten "als offensichtlich unbegründet" zurück. Den Vortrag der Klägerin zur Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit bis zum 17.06.2016 habe sie nicht hinreichend substantiiert bestritten. Erhebliche Einwände gegen ein im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens erstelltes psychiatrisch-neurologisches Gutachten über die Unfallfolgen habe sie nicht vorgebracht. Dieses sei zwar nicht nach § 411a ZPO verwertet worden, beinhalte aber qualifizierten Parteivortrag. Die Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH hatte teilweise Erfolg.

BGH: Rechtliches Gehör ist verletzt

Der VI. Zivilsenat verwies die Sache ans OLG zurück. Die Verurteilung der Beklagten auf Zahlung von Verdienstausfallschaden beruhe auf einem Gehörsverstoß nach Art. 103 Abs. 1 GG. Stellten sich in einem Schadensersatzprozess medizinische Fragen, seien an die Substantiierungspflicht der nicht sachkundigen Partei "nur maßvolle" Anforderungen zu stellen. Dies gelte auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Der BGH moniert, dass sich das OLG nicht ohne Beweisaufnahme über den Vortrag der Beklagten hätte hinwegsetzen dürfen. Die Beklagte habe den Sachvortrag der Klägerin zur unfallbedingten Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht nur pauschal bestritten, sondern sich sowohl mit der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als auch mit dem vorgelegten Gutachten im Einzelnen auseinandergesetzt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG zu einer anderen Beurteilung gelangt und in die Beweisaufnahme eingetreten wäre, wenn es das Bestreiten der Ursächlichkeit des Unfalls für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit durch die Beklagte nicht als unbeachtlich angesehen hätte.

BGH, Beschluss vom 11.10.2022 - VI ZR 361/21

Redaktion beck-aktuell, 21. November 2022.