BGH: Amtshaftung bei ausgebliebener Beratung durch Sozialhilfeträger

Zeigt sich bei Beantragung laufender Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII) ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf, so gehört es zur Beratungspflicht des Sozialhilfeträgers gemäß § 14 Satz 1 SGB I, auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger hinzuweisen. Unterlässt der Sozialhilfeträger einen solchen Hinweis, so verletzt er damit seine Amtspflicht, wie der Bundesgerichtshof entschieden hat (Urteil vom 02.08.2018, Az.: III ZR 466/16).

Sozialhilfeträger wegen Amtspflichtverletzung verklagt

Der 1984 geborene Kläger, der schwerbehindert ist, nimmt den beklagten Landkreis als Sozialhilfeträger unter dem Gesichtspunkt der Amtspflichtverletzung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 Satz 1 GG) wegen fehlerhafter Beratung auf Schadenersatz in Anspruch.

Betreuerin beantragte Leistungen der Grundsicherung

Der Kläger besuchte von 01.08.1991 bis 31.07.2002 eine Förderschule für geistig Behinderte. Anschließend nahm er vom 02.09.2002 bis zum 27.09.2004 in einer Werkstatt für behinderte Menschen an berufsbildenden Maßnahmen teil. Da es ihm in der Folgezeit nicht möglich war, ein seinen Lebensbedarf deckendes Erwerbseinkommen zu erzielen, beantragte seine zur Betreuerin bestellte Mutter im Dezember 2004 beim Landratsamt laufende Leistungen der Grundsicherung nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (gültig bis zum 31.12.2004) beziehungsweise nach §§ 41 ff. SGB XII (gültig ab dem 01.01.2005).

Sozialhilfeträger informierte erst Jahre später über Rentenanspruch des Klägers

Nachdem die Mutter des Klägers im Jahr 2011 von einer (neuen) Sachbearbeiterin des Landratsamts des Beklagten erstmals darüber informiert worden war, dass der Kläger einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen voller Erwerbsminderung habe, bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund auf entsprechenden Antrag des Klägers eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente mit Wirkung ab 01.08.2011. In dem Rentenbescheid wurde unter anderem festgestellt, dass die Anspruchsvoraussetzungen bereits seit dem 10.11.2004 erfüllt seien.

Kläger verlangt Differenz zwischen Grundsicherungs- und Rentenleistungen als Schadenersatz

Der Kläger verlangt Schadenersatz in Höhe der Differenz zwischen der vom 10.11.2004 bis 31.07.2011 gewährten Grundsicherung und der ihm in diesem Zeitraum bei rechtzeitiger Antragstellung zustehenden Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er hat vorgetragen, der geltend gemachte Differenzschaden wäre nicht eingetreten, wenn die Bediensteten des Beklagten ihn beziehungsweise seine Betreuerin bereits im Jahr 2004 auf die Möglichkeit des Rentenbezugs hingewiesen hätten.

Ausgang des Rechtsstreits noch offen

Das Landgericht hat der auf Zahlung von 50.322,61 Euro nebst Zinsen gerichteten Klage stattgegeben. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen. Der BGH hat auf die Revision des Klägers das Urteil des OLG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

BGH bejaht Amtspflichtverletzung wegen mangelhafter Beratung

Soweit das OLG eine Amtspflichtverletzung des Beklagten im Zusammenhang mit den ihm nach § 14 Satz 1 SGB I obliegenden besonderen sozialrechtlichen Beratungs- und Betreuungspflichten verneint hat, hält dies laut BGH einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Unter den gegebenen Umständen sei anlässlich der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung zumindest ein Hinweis vonseiten des Beklagten notwendig gewesen, dass auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in Betracht kam und deshalb eine Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war.

Beratungspflicht des Sozialleistungsträgers nicht auf sozialrechtliche Normen beschränkt

Im Sozialrecht bestünden für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten sei die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund stehe dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden. Denn schon gezielte Fragen setzten Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfüge. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liege gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht sei deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat.

Zumindest Hinweis auf anzuratende Beratung durch Rentenversicherungsträger erforderlich

Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, so bestehe für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I). Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bestand laut BGH im vorliegenden Fall ein dringender Beratungsbedarf in einer wichtigen rentenversicherungsrechtlichen Frage. Dies sei für die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt des Beklagten ohne weitere Ermittlungen eindeutig erkennbar gewesen. Der zu 100% schwerbehinderte Kläger habe nach dem Besuch einer Förderschule für geistig Behinderte berufsbildende Maßnahmen erfolgreich absolviert und sei anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig gewesen (versicherungspflichtige Beschäftigung). Er sei jedoch aufgrund seiner Behinderung außerstande gewesen, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen, Vermögen) zu bestreiten. In einer solchen Situation habe ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung befasster Sachbearbeiter des Sozialamts mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen müssen, dass bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen könnte. Es sei deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten gewesen.

Feststellung zu Rentenanspruch noch zu treffen

Das Berufungsgericht hat dahinstehen lassen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe für den geltend gemachten Zeitraum ein Rentenanspruch tatsächlich begründet war, sodass insoweit ergänzende Feststellungen zu treffen sind.

BGH, Urteil vom 02.08.2018 - III ZR 466/16

Redaktion beck-aktuell, 2. August 2018.