Ablehnung eines Sachverständigengutachtens nur bei Evidenz

Ein Antrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann nur dann abgelehnt werden, wenn das Gutachten entbehrlich ist. Der Bundesgerichtshof hat am 23.03.2022 entschieden, dass das nur der Fall sein kann, wenn die Voraussetzungen der Unterbringung offensichtlich vorliegen oder offensichtlich nicht vorliegen. In einem Fall, in dem ein Jugendlicher betäubungsmittelabhängig war und behauptete, seit mehreren Monaten nicht mehr zu konsumieren, liege kein solcher Evidenzfall vor.

Auf Sachverständigengutachten verzichtet

Ein junger Mann handelte in fünf Fällen mit Betäubungsmitteln und wurde dafür vom Landgericht Weiden in der Oberpfalz zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Sein Verteidiger hatte in der Verhandlung die Vernehmung eines Sachverständigen beantragt, um die Voraussetzungen einer Unterbringung des Jugendlichen in einer Entziehungsanstalt feststellen zu lassen. Die Jugendkammer lehnte ab: Sie stützte ihre Entscheidung auf die Einlassung des Angeklagten, wonach er ohne Hilfe seinen Konsum von 20 Gramm Marihuana pro Woche auf Null gesenkt habe. In den Urteilsgründen variierte dabei der Zeitraum seiner Abstinenz um mehrere Monate. Eine Anordnung der Unterbringung erging nicht. Der Angeklagte erhob Revision zum Bundesgerichtshof (Az.: 6 StR 63/22) – mit Erfolg.

Gutachten war erforderlich

Nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO ist ein Sachverständigengutachten erforderlich, wenn das Gericht die Anordnung der Unterbringung erwägt. Die Jugendkammer hätte den Leipziger Richtern zufolge nur dann von dem Gutachten absehen können, wenn das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 64 StGB offensichtlich gewesen wäre, denn nur dann wäre ein Gutachten entbehrlich. Einen solchen Evidenzfall sah der 6. Strafsenat hier jedoch nicht, da bereits widersprüchliche Angaben über den Zeitraum der Abstinenz im Urteil enthalten seien. Außerdem sei davon auszugehen, dass sich der Jugendliche eine mildere Strafe von der Behauptung, er würde abstinent leben, erhofft habe. Das Landgericht muss nun erneut über die Sache befinden.

BGH, Beschluss vom 23.03.2022 - 6 StR 63/22

Redaktion beck-aktuell, 11. April 2022.