Abkehr von "taggenauer Berechnung" des Schmerzensgeldes
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Der Bundesgerichtshof hat heute die Methode der "taggenauen Berechnung" des Schmerzensgeldes verworfen. Es müsse im Rahmen einer Gesamtbetrachtung eine einheitliche Entschädigung unter Berücksichtigung der Schwere der Verletzungen, des erlittenen Leidens und der bestehenden Beeinträchtigungen festgesetzt werden, die sich nicht streng rechnerisch ermitteln lasse, betonte das Gericht in seiner Revisionsentscheidung.

Berufungsgericht sprach Verkehrsunfallopfer 200.000 Euro Schmerzensgeld zu

Der Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall erheblich verletzt. Er verlor den rechten Unterschenkel und musste 500 Tage im Krankenhaus verbringen. Seither ist er zu mindestens 60% in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Die Einstandspflicht der Beklagten (Fahrer, Halter und Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Pkw) steht dem Grunde nach außer Streit. Das Landgericht sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld von 100.000 Euro zu. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Oberlandesgericht die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von insgesamt 200.000 Euro.

“Taggenaue Berechnung“

Nach der vom Berufungsgericht hierbei angewendeten Methode der "taggenauen Berechnung" des Schmerzensgeldes ergibt sich dessen Höhe in einem ersten Rechenschritt (Stufe I) unabhängig von der konkreten Verletzung und den damit individuell einhergehenden Schmerzen aus der bloßen Addition von Tagessätzen, die nach der Behandlungsphase (Intensivstation, Normalstation, stationäre Reha-Maßnahme, ambulante Behandlung zuhause, Dauerschaden) und der damit regelmäßig einhergehenden Lebensbeeinträchtigung gestaffelt sind. In einem zweiten Rechenschritt (Stufe II) wurde von der zuvor taggenau errechneten Summe wegen der erheblichen Vorerkrankungen des Klägers ein Abschlag vorgenommen. Von der nach der oben aufgeführten Methode grundsätzlich vorgesehenen abschließenden Erhöhung des Schmerzensgeldes bei Dauerschäden und besonders schwerwiegenden Verfehlungen des Schädigers (Stufe III) hat das Berufungsgericht im Streitfall keinen Gebrauch gemacht. Mit der Revision begehrten die Beklagten die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

BGH hebt Berufungsurteil auf

Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes seien im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei gehe es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. In erster Linie seien die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung sei eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lasse.

Schematische Berechnung wird konkretem Fall nicht gerecht

Diesen Grundsätzen werde die vom Berufungsgericht vorgenommene "taggenaue Berechnung" des Schmerzensgeldes nicht gerecht. Die schematische Konzentration auf die Anzahl der Tage, die der Kläger auf der Normalstation eines Krankenhauses verbracht habe und die er nach seiner Lebenserwartung mit der dauerhaften Einschränkung voraussichtlich noch wird leben müssen, lasse wesentliche Umstände des konkreten Falles außer Acht. So bleibe unbeachtet, welche Verletzungen der Kläger erlitten habe, wie die Verletzungen behandelt worden und welches individuelle Leid bei ihm ausgelöst worden sei. Gleiches gelte für die Einschränkungen in seiner zukünftigen individuellen Lebensführung. Auch die Anknüpfung an die statistische Größe des durchschnittlichen Einkommens trage der notwendigen Orientierung an der gerade individuell zu ermittelnden Lebensbeeinträchtigung des Geschädigten nicht hinreichend Rechnung. Das Berufungsgericht müsse daher erneut über die Höhe des Schmerzensgeldes befinden.

BGH, Urteil vom 15.02.2022 - VI ZR 937/20

Redaktion beck-aktuell, 15. Februar 2022.