Psychische Erkrankung beim Mieter: BGH besteht nicht mehr auf Attest vom Facharzt
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Um eine Kündigung abzuwehren, müssen psychisch erkrankte Mieter ihren Zustand durch ein Attest nachweisen – bisher konnte das nur ein Facharzt ausstellen. Nun hat der BGH die Anforderungen gesenkt. Warum dieser Ansatz nicht überzeugt, schreibt Michael Selk

Eine Eigenbedarfskündigung ist für alle Mieterinnen und Mieter ein Alptraum. Sind psychische Erkrankungen im Spiel, kann der Verlust des eigenen Zuhauses besonders harte treffen. Gem. § 574 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Mieter einer Kündigung allerdings widersprechen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn dessen Beendigung für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

Für viele Mieterinnen und Mieter ist diese Norm im Falle etwa einer Eigenbedarfskündigung der "letzte Rettungsanker". Gerade erkrankte Mieterinnen und Mieter tragen in Räumungsprozessen oft vor, dass sich ihr Zustand bei Auszug oder schon bei einem Räumungsurteil deutlich verschlechtern würde. Besonders gravierend können die Folgen sein, wenn auf Mieterseite die Gefahr eines Suizides besteht – dies gilt insbesondere bei Depressionen - und diese Gefahr sich bei einem Räumungsurteil noch verschlechtert.

Bisher galt: "ohne Attest kein Gutachten"

Der VIII. Zivilsenat des BGH hat sich mit diesen Fällen in der Vergangenheit immer wieder befassen müssen. Insbesondere dann, wenn die Amts- bzw. Landgerichte diese Interessen von Mieterinnen und Mietern nicht hinreichend berücksichtigt haben, kam es zur Aufhebung und Zurückverweisung an die Vorinstanzen. Hintergrund ist der zutreffende Ansatz, dass eine erhebliche Gesundheitsgefahr im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Interessen schon von Amts wegen zu berücksichtigen ist; und dies schon im Erkenntnisverfahren und nicht erst in der Vollstreckung (gem. § 765a ZPO).

Allerdings hat der BGH in der Vergangenheit an die Vortragslast von Mieterinnen und Mietern schon auf der Darlegungsebene recht hohe Anforderungen gestellt. Insbesondere wurde seit Jahren – so verstand man den BGH - von der Mieterseite schon ein qualifiziertes Attest eines Facharztes verlangt, damit das Tatgericht dann das notwendige gerichtliche Gutachten eines Mediziners einholen kann. In der Praxis gilt daher der Grundsatz: "Ohne Attest kein Gutachten."

Diese Linie des Senats hat die Praxis stets ganz überwiegend dahingehend verstanden, dass ein ausführliches qualifiziertes Attest schon auf der Darlegungsebene ausreichend, aber auch erforderlich ist. Hintergrund des Erfordernisses war offensichtlich, dass man die Einholung von kostenintensiven und zeitintensiven Gutachten vermeiden wollte – vor allem Mieterinnen und Mietern, die vielleicht durch absichtlich falschen Vortrag Zeit gewinnen wollten. Bis zuletzt haben sich auch die Tatgerichte an diese strengen Vorgaben gehalten.

BGH schwenkt um: Attest muss nicht vom Facharzt sein

Die neue Entscheidung des BGH – für die er im Übrigen mehr als zwei Jahre nach Eingang der Revision brauchte – ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Der Senat hebt ein Urteil der 65. Zivilkammer des LG Berlin auf und verweist die Sache an diese Kammer zurück (Urteil vom 16.04.2025 - VIII ZR 270/22). Das LG hatte eine Bescheinigung eines Psychoanalytikers, der Leistungen nach dem Heilpraktikergesetz anbot, als nicht ausreichend erachtet – dies sei keineswegs ein ausführliches "fachärztliches" Attest, so das LG. Aus diesem Grunde hatte es die Berufung der Mieter schon per Beschluss zurückgewiesen.

Damit ist der BGH nicht einverstanden. Nicht "stets" müsse der hinreichend substantiierte Vortrag des Mieters durch ein (ausführliches) fachärztliches Attest untermauert werden, so der erste Leitsatz des Senats, der zudem dort meint, seine früheren Urteile damit nur zu bestätigen. Gemäß dem zweiten Leitsatz genüge auch eine (ausführliche) Stellungnahme eines qualifizierten Behandlers, bezogen auf das geltend gemachte Beschwerdebild. Sei der Mieter gehalten, ohnehin medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei dem Mieter auch die Einholung eines entsprechenden Attestes „ohne weiteres zumutbar“. Konkret bedeute dies, dass auch Leistungen nach dem Heilpraktikergesetz und dort der Psychotherapie ausreichend sein könnten, ein fachärztliches Attest sei nicht erforderlich.

BGH sollte Attest-Erfordernis ganz aufgeben

Überzeugend sind diese Ausführungen nicht. Das LG hatte die vorigen Kriterien der Rechtsprechung des Senats zutreffend angewendet, indem es das – bis dato für notwendig erachtete – fachärztliche Attest verlangte. Anders als der Senat es nun darstellt, hatte er zuvor sehr wohl ein fachärztliches Attest für erforderlich gehalten – es überrascht schon, dass er seine früheren Entscheidungen abweichend interpretiert. Verlangt man also eine "fachärztliche" Bescheinigung, so gelten die Voraussetzungen etwa der MWBO Ärzte – und unter den 34 Facharzttiteln wird ein Heilpraktiker nicht erwähnt. Das LG Berlin hielt sich mithin nur an die bisherigen Anforderungen des BGH.

 Es ist schon aus Praktikersicht sehr fernliegend, dass der BGH meint, dem Mieter sei die Einholung eines Attestes ohne weiteres zumutbar. Das können Anwältinnen und Anwälte, die schwer depressive und suizidgefährdete Mieterinnen und Mieter vertreten, nicht ohne Weiteres bestätigen. Behandlungstermine  in der heutigen Zeit sind schwierig zu erhalten – noch schwieriger ist es, erfolgreich einen Arzt zu bitten, nicht nur den Zustand so schnell wie möglich zu dokumentieren, sondern auch noch eine Prognose (Verschlechterung bei Auszug) zu stellen. Hier weigern sich Ärztinnen und Ärzte mit der nachvollziehbaren Begründung, sie seien doch keine Sachverständigen – und im Übrigen oft auch aus Angst vor der Haftung. Viele Ärzte und Therapeuten stellen aus Prinzip kein Attest aus.

Aus dogmatischer Sicht ist das Erfordernis einer Bescheinigung oder eines Attestes ohnehin nach wie vor nicht verständlich. Schon vor dieser Entscheidung des Senats wurde in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass der BGH schon auf der Darlegungsebene ein solches Attest verlangt, dem allgemeinen, von allen Senaten des BGH anerkannten Grundsatz widerspreche, wonach es "genüge, wenn eine Partei Tatsachen vortrage, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen". Mit anderen Worten: eines Attestes bedarf es eben nicht, geht es etwa um Erkrankungen und Folgen. Dann aber würde schon der bloße Vortrag von Mieterinnen und Mietern genügen, im Falle eines Auszugs würde sich ihre Depression verschlechtern mit der Folge der Steigerung der Suizidgefahr.

Es bleibt abzuwarten, wie diese Rechtsprechung in der tatgerichtlichen Praxis übernommen wird. Das Erfordernis einer "ausführlichen Stellungnahme eines qualifizierten Behandlers" lässt Spielraum offen. Zynische Stimmen meinen, dass dann auch eine Stellungnahme eines Zahnarztes ausreichend sein könnte. Es wäre unabhängig von aller Dogmatik zu wünschen, dass der BGH die Anforderungen hier weiter präzisiert – oder eben das Attest-Erfordernis aufgibt.

Dr. Michael Selk ist Rechtsanwalt in Hamburg sowie Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht, Bau- und Architektenrecht sowie Strafrecht.

BGH, Urteil vom 16.04.2025 - VIII ZR 270/22

Dr. Michael Selk, 14. Mai 2025.

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