Das letzte Wort: Angeklagter muss genug Zeit zur Vorbereitung haben

Für ihr letztes Wort müssen Angeklagte ausreichend Vorbereitungszeit haben. Die rein formale Möglichkeit, sich zur Beweisaufnahme zu äußern, reicht nicht aus. Der BGH hob eine Verurteilung wegen versuchten Mordes auf, weil die Jugendkammer eine Unterbrechung für die Vorbereitung verweigerte. 

Ein Jugendlicher sollte laut Anklageschrift am Himmelfahrtstag 2022 in Scharnebeck nach einem Streit um ein Bier einen anderen mit einem Klappmesser in Tötungsabsicht attackiert haben. Der Geschädigte erlitt mehrere Stichverletzungen unter anderem im Brustbereich. Auch eine junge Frau wurde dabei von dem Angeklagten am Oberarm verletzt.

Während die Anklage noch von versuchtem Totschlag ausgegangen war, erteilte das Landgericht Lüneburg am Ende des zweiten Hauptverhandlungstags einen rechtlichen Hinweis, wonach auch eine Verurteilung wegen versuchten Mordes (heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen) in Betracht käme. Der Jugendliche wurde noch im Saal verhaftet. Sein Verteidiger beantragte vergebens die Aussetzung, hilfsweise Unterbrechung der Hauptverhandlung.

Am nächsten Tag ging es nach einer umfangreichen Beweisaufnahme nahtlos in das letzte Wort und die Schlussplädoyers über. Einen erneuten Antrag, die Verhandlung zu unterbrechen, um das letzte Wort und sein Plädoyer sachgerecht vorbereiten zu können, lehnte das Gericht ab. Es verurteilte den Angeklagten anschließend unter anderem wegen versuchten Mordes zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren. Der Jugendliche erhob die Revision zum BGH – mit Erfolg.

Recht auf das letzte Wort verletzt

Die Leipziger Richterinnen und Richter hielten die Verfahrensrüge wegen Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO für begründet (Beschluss vom 18.04.2024 - 6 StR 545/23): Das Recht des Angeklagten, nach der Beweisaufnahme noch einmal umfassend zum Ergebnis der Hauptverhandlung Stellung zu nehmen, sei verletzt worden. Es gehe nicht nur um die bloße Möglichkeit der Äußerung, sondern auch darum, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, das letzte Wort möglichst wirksam auszuüben.

Der BGH betont die herausragende Bedeutung des letzten Wortes – wenn die Verteidigung mehr Vorbereitungszeit verlangt, müssen die Umstände des Einzelfalls sorgfältig geprüft werden. Hier wurden am letzten Sitzungstag noch mehrere Zeugen und zwei Sachverständige gehört. Hinzu kommt, dass der Angeklagte am Vortag überraschend im Saal inhaftiert worden war, nachdem der Tatvorwurf erheblich verschärft wurde. Da sei es unvertretbar, die Hauptverhandlung nicht wenigstens zu unterbrechen, um das letzte Wort und das Schlussplädoyer sachgerecht vorbereiten zu können. 

BGH, Urteil vom 18.04.2024 - IX ZR 89/23

Redaktion beck-aktuell, rw, 28. Mai 2024.