Selbst­le­se­ver­fah­ren: Für Ne­ben­kla­ge Recht und nicht Pflicht

Die Ne­ben­kla­ge und ihr An­walt haben zwar einen An­spruch dar­auf, am Selbst­le­se­ver­fah­ren be­tei­ligt zu wer­den, müs­sen daran aber nicht teil­neh­men. Des­halb ist es laut BGH auch kein Ver­fah­rens­feh­ler zu­guns­ten des An­ge­klag­ten, wenn das Ge­richt sie außen vor lässt. 

Das LG hatte den An­ge­klag­ten unter an­de­rem wegen Ver­ge­wal­ti­gung zu vier Jah­ren Ge­samt­frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt. Der An­ge­klag­te ging in Re­vi­si­on: Unter an­de­rem habe das Ge­richt die als Ne­ben­klä­ge­rin zu­ge­las­se­ne Ge­schä­dig­te (be­zie­hungs­wei­se ihre An­wäl­tin) ver­fah­rens­feh­ler­haft nicht am be­züg­lich ver­schie­de­ner Ur­kun­den an­ge­ord­ne­ten Selbst­le­se­ver­fah­ren be­tei­ligt. Daher sei seine Ver­ur­tei­lung auf­zu­he­ben.

Das sah der 2. Straf­se­nat des BGH an­ders und ver­warf die Re­vi­si­on des Man­nes (Ur­teil vom 27.03.2024 – 2 StR 382/23). Seine Rüge auf Ver­let­zung des Grund­sat­zes der frei­en Be­weis­wür­di­gung nach § 261 StPO hatte kei­nen Er­folg. Zwar hätte die Ge­schä­dig­te, die zu den "üb­ri­gen Be­tei­lig­ten" nach § 249 Abs. 2 S. 1 StPO StPO ge­hö­re, den An­spruch ge­habt, am Selbst­le­se­ver­fah­ren be­tei­ligt zu wer­den. Eine Pflicht zur Teil­nah­me habe für sie aber nicht be­stan­den. Das Selbst­le­se­ver­fah­ren habe auch ohne sie durch­ge­führt wer­den dür­fen. Der "Rechts­kreis" des An­ge­klag­ten werde da­durch nicht be­rührt. Das LG war nach An­sicht der Rich­te­rin­nen und Rich­ter daher auch nicht ver­pflich­tet, An­ga­ben über die Teil­nah­me oder über die Mög­lich­keit der Kennt­nis­nah­me der Un­ter­la­gen sei­tens der Ne­ben­kla­ge auf­zu­neh­men:

"Waren Ne­ben­klä­ger und/oder deren an­walt­li­che Ver­tre­ter (wie hier) an einem Selbst­le­se­ver­fah­ren nicht be­tei­ligt, müs­sen diese auch nicht von der Fest­stel­lung des Vor­sit­zen­den nach  § 249 Abs. 2 S. 3 StPO um­fasst sein, um den ord­nungs­ge­mä­ßen Ab­schluss des Selbst­le­se­ver­fah­rens und damit die ord­nungs­ge­mä­ße Ein­füh­rung der in das Selbst­le­se­ver­fah­ren ge­ge­be­nen Ur­kun­den in die Haupt­ver­hand­lung zu be­wir­ken", be­ton­te der BGH. An­dern­falls könn­te eine dem Ver­fah­rens­gang ent­spre­chen­de Fest­stel­lung den Ab­schluss des Selbst­le­se­ver­fah­rens nie­mals be­wir­ken.

Dass der Vor­sit­zen­de dem tat­säch­li­chen Ver­fah­rens­ge­sche­hen zu­wi­der aus­nahms­los fest­stel­len müss­te, dass alle "üb­ri­gen" am Haupt­ver­fah­ren Be­tei­lig­ten Ge­le­gen­heit ge­habt hat­ten, vom Wort­laut der ins Selbst­le­se­ver­fah­ren ge­ge­be­nen Ur­kun­den Kennt­nis zu neh­men, lasse sich, so der BGH wei­ter, weder aus dem Wort­laut ("die Kennt­nis­nah­me und die Ge­le­gen­heit hier­zu" des  § 249 Abs. 2 S. 3 StPO noch aus des­sen Sinn und Zweck ("Si­gnal­wir­kung" durch Kennt­lich­ma­chung und Hin­weis an die Ver­fah­rens­be­tei­lig­ten) ab­lei­ten. Habe die Ne­ben­kla­ge – wie hier – ihre of­fen­kun­dig un­ter­blie­be­ne Be­tei­li­gung am Selbst­le­se­ver­fah­ren nicht be­an­stan­det, könn­ten Zwei­fel dar­über, dass das Selbst­le­se­ver­fah­ren ab­ge­schlos­sen sei, je­den­falls dann nicht auf­kom­men, wenn hin­sicht­lich aller Be­tei­lig­ten eine Ge­le­gen­heit zur Kennt­nis­nah­me fest­ge­stellt wor­den sei.

BGH, Urteil vom 27.03.2024 - 2 StR 382/23

Redaktion beck-aktuell, ns, 25. Juni 2024.