Das Finanzamt hatte den in Deutschland lebenden Begünstigten einer Schweizer Familienstiftung die Einkünfte der Stiftung nach § 15 Abs. 1 AStG zugerechnet. Sie mussten diese Einkünfte daher versteuern, obwohl sie keine Ausschüttungen von der Stiftung erhalten hatten. § 15 Abs. 6 AStG enthält unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme von der Zurechnung für den Fall, dass die Familienstiftung ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz in einem EU- oder EWR-Staat hat. Das Finanzamt hatte die Ausnahme versagt, weil die Stiftung in der Schweiz ansässig ist. Die Begünstigten wandten unter anderem ein, eine Zurechnung verstieße gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV).
Wie zuvor das FG Hessen gab der BFH ihnen Recht (Urteil vom 03.12.2024 - IX R 32/22). Dass § 15 Abs. 6 AStG nur eine Ausnahme für Stiftungen mit Geschäftsleitung oder Sitz in einem EU- oder EWR-Staat mache, verstoße gegen die Kapitalverkehrsfreiheit, die auch im Verhältnis zu Drittstaaten gelte, so der BFH.
Die Zurechnungsbesteuerung ausländischer Familienstiftungen beschränke die Kapitalverkehrsfreiheit und sei nicht nach Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV gerechtfertigt. Die Regelung sei eng auszulegen, Ungleichbehandlungen von "Steuerpflichtigen mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort" nur zulässig, wenn es sich um objektiv nicht vergleichbare Situationen handelt oder ein zwingender Grund des Allgemeininteresses die Ungleichbehandlung rechtfertigt.
Anwendungsvorrang des Unionsrechts: Ausnahme auch in Drittstaatenfällen anzuwenden
Inländische und ausländische Stiftungen befänden sich mit Blick auf den Zweck der Zurechnungsbesteuerung, Steuerflucht und -vermeidung zu bekämpfen, in objektiv vergleichbaren Situationen. Die unterschiedliche Behandlung sei auch nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Ein solcher sei zwar die Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerumgehung. Die Zurechnungsbesteuerung schieße aber über das Ziel hinaus, soweit die den Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit rechtfertigende Ausnahme in § 15 Abs. 6 AStG nicht auch in Drittstaatenfällen anwendbar sei.
Um einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit abzuwenden, sei daher aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts § 15 Abs. 6 AStG im Weg der geltungserhaltenden Reduktion auch auf Familienstiftungen mit Geschäftsleitung oder Sitz in einem Drittstaat anzuwenden.
Da den Stiftungen nach § 15 Abs. 4 AStG sonstige Zweckvermögen, Vermögensmassen und rechtsfähige oder nichtrechtsfähige Personenvereinigungen gleichstehen, können sich auch die Begünstigten der im Common-Law-Raum weit verbreiteten Trusts auf die Ausnahme von der Zurechnungsbesteuerung berufen.