Rund 42.000 Entscheidungen in 70 Jahren
"Dassonville", "Cassis de Dijon", "Keck" – Jurastudierenden dürften diese Grundsatzentscheidungen des EuGH ein Begriff sein. Allerdings decken diese Klausurklassiker gerade mal einen Bruchteil der europäischen Rechtsprechung der letzten 70 Jahre ab. Rund 42.000 Entscheidungen für rund 450 Millionen EU-Bürger in 24 Amtssprachen hat der Gerichtshof der Europäischen Union seit seinem Bestehen gefällt, über 24.000 davon der EuGH, knapp 16.500 das EuG und circa 1.500 das Gericht für den öffentlichen Dienst. Viele dieser Entscheidungen prägen unser deutsches Rechtssystem und unser Zusammenleben sowohl in Deutschland als auch in der EU.
EuGH prägt unser Zusammenleben
Der Allgemeinheit so richtig bekannt wurde der EuGH wohl erst im Jahr 1995 mit dem sogenannten Bosmann Urteil. Dieses stellte damals das Model der Ablösesummen im Profifußball auf den Kopf. Seitdem folgten zahlreiche wichtige Entscheidung zu verschiedenen Themen. So entschied der EuGH etwa 2019, dass online gekaufte Matratzen auch nach einer Testphase von 14 Tagen zurückgegeben werden können. Im selben Jahr kippte er die Pkw-Maut auf deutschen Autobahnen, da diese ausländische EU-Bürger benachteilige. 2021 sorgte die sogenannte Kopftuch-Rechtsprechung des EuGH für Aufmerksamkeit. Demnach dürfen Arbeitgeber ihren Mitarbeitenden das Tragen sichtbarer religiöser Zeichen aus Gründen der Neutralität verbieten.
Vorrang des EU-Rechts
Der EuGH besteht aus 27 Richterinnen und Richtern - eine beziehungsweise einer je Mitgliedstaat. Er ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union und sichert gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV "die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge". In den letzten 70 Jahren habe der EuGH eine ganz bedeutende Stellung erreicht, sagt der Verfassungsrechtler Joachim Wieland im Interview mit dem ZDF heute-journal. Durch seine eigene Rechtsprechung habe er festgelegt, dass das Recht der EU dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten vorgehe. Da das EU-Recht mittlerweile faktisch alle Rechtsgebiete erfasst, habe der EuGH in allen diesen Rechtsgebieten auch das letzte Wort, so Wieland.
Streit um EZB-Anleihekäufe
Der einst unumstößliche Grundsatz des Vorrangs von Unionsrecht gegenüber nationalem Recht ist in den letzten Jahren aber zunehmend ins Wanken geraten. Einer der Auslöser hierfür war ausgerechnet ein Urteil aus Deutschland. 2020 stellte das BVerfG in der sogenannten EZB-Entscheidung fest, dass der EuGH seiner Kontrollaufgabe nicht ausreichend nachgekommen sei, also "ultra vires" gehandelt habe. In der Sache ging es um milliardenschwere Anleihekäufe im Rahmen des 2015 gestarteten Programms PSPP der Europäischen Zentralbank (EZB). Mehrere Personen hatten gegen das Anleihekaufprogramm Verfassungsbeschwerde erhoben - mit Erfolg. Das BVerfG beanstandete die Anleihekäufe, obwohl der EuGH diese vorher gebilligt hatte. Das Gericht hatte argumentiert, die Notenbank habe ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt. Bundesregierung und Bundestag sollten darauf hinwirken, dass die EZB nachträglich prüft, ob die Käufe verhältnismäßig sind.
BVerfG sah EU-Mandat in der Geldpolitik überspannt
Die EZB-Entscheidung erging am 05.05.2020 - einen Tag vor Ende der Amtszeit des damaligen Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle. 10 Jahre zuvor hatte Voßkuhle im sogenannten Honeywell-Verfahren festgelegt, unter welchen Voraussetzungen eine ultra-vires-Kontrolle des EuGH durch das BVerfG in Betracht kommt. Mit dem Ausdruck "ultra-vires" – jenseits der Gewalten – ist der Fall gemeint, dass ein europäisches Organ seine Kompetenzen überschreitet. Die europäischen Organe dürfen nämlich nur soweit handeln, wie die Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge ihnen dafür Kompetenzen übertragen haben. In der EZB-Entscheidung stellte das BVerfG sodann erstmals in seiner Geschichte fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien und somit in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten könnten. Die EU-Kommission hat daraufhin im Juni 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, dieses im Dezember 2021 aber wieder eingestellt, da die Bundesrepublik förmlich erklärt habe, den Vorrang und die Autonomie des Unionsrechts, insbesondere auch für den Bereich der Rechtsstaatlichkeit, anzuerkennen.
Ungarn und Polen: Immer wieder Streit um die Rechtsstaatlichkeit
In anderen Mitgliedstaaten, etwa in Ungarn und Polen, gibt es immer wieder Streit um Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Im Jahr 2021 hat sich die Debatte in Polen zugespitzt, als der Polnische Verfassungsgerichthof urteilte, dass bestimmte Elemente des EU-Rechts gegen die polnische Verfassung verstoßen. Damit gab es nationalem Recht den Vorrang vor EU-Recht und hat somit den Vorrang des EU-Rechts generell in Frage gestellt. Zuvor hatte das polnische Gericht entschieden, dass die Anwendung einstweiliger EuGH-Verfügungen, die sich auf das Gerichtssystem des Landes beziehen, nicht mit Polens Verfassung vereinbar seien.
Reaktionen aus Luxemburg
"Das kann der EuGH aber nicht hinnehmen, weil sonst die europäische Union keine Rechtsgemeinschaft mehr ist", erklärt dazu Wieland. Koen Lenaerts, der Präsident des EuGH, erklärt im ZDF heute-journal zu den Konflikten mit nationalen Gerichten, dass das Unionsrecht eine gemeinsame Rechtsordnung der Mitgliedsstaaten darstelle. Insofern gehe es weniger darum, dass der EuGH das "letzte Wort" oder ein "Machtwort" sprechen wolle, sondern vielmehr darum, dass er als gemeinsames Gericht ein gemeinsames Wort spreche. Polen habe offensichtlich ein anderes Verständnis von der Unabhängigkeit seiner Gerichte und seiner Rechtstaatlichkeit als der EuGH, der eine gemeinsame Feststellung für alle Mitgliedstaaten ausgesprochen habe. Der EuGH habe daraufhin ein Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro pro Tag gegen Polen festgesetzt. Die EU-Kommission hat ihrerseits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Abwägung zwischen Einheit und Vielfalt
Beim dreitägigen Richterforum anlässlich des 70-jährigen Bestehens des EuGH, bei dem die Mitglieder des EuGH und des EuG mit den Präsidenten der Verfassungsgerichte und der obersten Gerichte aller Mitgliedstaaten sowie den Präsidenten des EGMR und des Gerichtshofs der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) zusammenkommen, wird es sicherlich auch um diese jüngsten Entwicklungen gehen. "In der Vielfalt geeint" - das sei sein Motto für die nächsten 70 Jahre, so Lenarts. Die größte Herausforderung sehe er darin, sicherzustellen, dass die Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts den Mitgliedsstaaten dennoch Spielraum für die eigene Identität lässt.