Fast zwei Jahre nach der Bundestagswahl klingt es noch immer kaum vorstellbar, was da am 26.09.2021 in Berlin los war: lange Warteschlangen vor Wahllokalen, zu wenige Wahlkabinen, Stimmabgaben nach 18.00 Uhr, falsche und fehlende Stimmzettel. Den Bundestag wählten Minderjährige und Menschen, die aus anderen Gründen dazu nicht berechtigt waren, mit.
"Schwere organisatorische Mängel" nannte der Berliner Wahlleiter Stephan Bröchler das am Dienstag im BVerfG. Er war damals noch nicht im Amt.
Unionsfraktion im Bundestag legte Wahlprüfungsbeschwerde ein
Hintergrund des aktuellen Karlsruher Verfahrens ist eine Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag. Aus deren Sicht müsste die Wahl in mehr Wahlbezirken wiederholt werden, als vom Plenum mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP beschlossen. Eine Entscheidung wird in einigen Monaten erwartet.
Das Thema ist brisant: Dem Karlsruher Gericht liegen laut einem Sprecher 61 weitere Beschwerden mit Bezug auf die Bundestagswahl vor. Beim Bundestag wurden 1.713 Einsprüche gegen die Bundestagswahl im Land Berlin erhoben; einer vom damaligen Bundeswahlleiter. Das waren rund achtmal so viele Einsprüche wie bei früheren Wahlen, wie Richter Peter Müller sagte. Eine "bisher nicht gekannte Zahl". Die Wahlfehler könnten dazu geführt haben, dass Menschen nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht hätten.
Manches, was der Zweite Senat zu hören bekam, klang ernüchternd. So wies Müller – nach eigenem Bekunden einst selbst als Wahlhelfer im Einsatz – darauf hin, dass trotz der parallel stattfindenden Wahlen etwa zum Berliner Abgeordnetenhaus die Zahl der Wahlbezirke nicht in allen Teilen der Hauptstadt erhöht wurde. Ob das keinem aufgefallen sei, fragte er den Landeswahlleiter. Bröchlers Antwort trocken: "Es ist Berliner Realität." Es gebe eine lange Tradition, dass die Bezirke eigenständig seien. Es gebe aber keine Kontrollinstanz.
Bundestagsbeschluss sieht lediglich teilweise Wiederholung der Wahl vor
Der Bundestag hatte am 10.11.2022 mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen beschlossen, dass die Wahl lediglich teilweise wiederholt wird. Betroffen sind 327 der 2.256 Wahlbezirke der Hauptstadt sowie 104 der 1.507 Briefwahlbezirke. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist der Beschluss aber rechtswidrig, unter anderem weil der Bundestag die Wahl in sechs vom Bundeswahlleiter angefochtenen Wahlkreisen nicht insgesamt für ungültig erklärt habe.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Patrick Schnieder, hob in seiner Argumentation vor Gericht darauf ab, die Legitimation der Wahl müsse wiederhergestellt werden. Für den Bundestag sagte Heiko Sauer als Bevollmächtigter, dass man nicht wisse, wie viele Nichtwähler wegen des Chaos nicht gewählt hätten. Jedenfalls habe die Wahlbeteiligung nur knapp unter dem Bundesschnitt gelegen.
Unterschiedlich bewerteten die Seiten auch die Frage, ob Wartezeiten zum Beispiel ab einer halben Stunde an sich schon Wahlfehler seien. Die neue Bundeswahlleiterin Ruth Brand sieht das so. Sie erklärte unter anderem, dass Fotos und Videos von Warteschlangen etwa in sozialen Netzwerken andere Menschen vom Wählen abschrecken könnten.
Noch kein Termin für Wiederholungswahl
Dass erst jetzt über die Pannen-Wahl verhandelt wurde, liegt laut Richter Müller an dem zweistufigen Prüfverfahren: Zunächst ist das Sache des Bundestags, erst später des Verfassungsgerichts. Auch wegen der hohen Zahl an Einsprüchen sei selbst bei größtmöglicher Beschleunigung kein früherer Zeitpunkt möglich gewesen, sagte Müller.
Für die Wiederholungswahl – ganz gleich in welchem Umfang – gibt es noch keinen Termin. Landeswahlleiter Bröchler hatte im Juni erklärt, die Wiederholungswahl nach nur 60 Tagen durchzuführen, sobald das Verfassungsgericht das Urteil gefällt habe.
Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses wurde bereits wiederholt
Die ebenfalls von den Pannen am Wahltag im September 2021 betroffene Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses war am 12.02.2023 komplett wiederholt worden. Kurz zuvor hatten die Verfassungsrichter und -richterinnen in Karlsruhe im Eilverfahren grünes Licht gegeben.
In einer nachgereichten Begründung hieß es, nach der föderalen Ordnung des Grundgesetzes sei das BVerfG keine zweite Instanz über den Landesverfassungsgerichten, die deren Urteile durchgängig und in vollem Umfang nachprüfe.