Belgische AKW Doel 1 und 2: EuGH-Generalanwältin bezweifelt Rechtmäßigkeit der Laufzeitverlängerung

Die Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof Juliane Kokott hat Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Laufzeitverlängerung der belgischen Kernkraftwerke Doel 1 und 2 bis 2025. Sie ist der Ansicht, dass das belgische Gesetz wohl unter Verstoß gegen unionsrechtliche Pflichten zur Umweltprüfung erlassen worden sei. Es sei in diesem Fall aber nicht ausgeschlossen, die Wirkungen des Verlängerungsgesetzes aus Gründen der Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten (Schlussanträge vom 29.11.2018, Az.: C-411/17).

Schrittweiser Ausstieg aus der Atomkraft in Belgien sah Aus für Doel 1 und 2 im Jahr 2015 vor

Im Jahr 2003 beschloss der belgische Gesetzgeber den schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraft. Es sollte kein neues Kernkraftwerk mehr gebaut und bei den in Betrieb befindlichen Reaktoren nach 40 Jahren Laufzeit der Betrieb schrittweise zwischen 2015 und 2025 eingestellt werden. Dementsprechend stellte der an der Schelde (nahe Antwerpen sowie der niederländischen Grenze) liegende Kernreaktor Doel 1 die Stromerzeugung Mitte Februar 2015 ein, und auch der dortige Kernreaktor Doel 2 sollte die Stromerzeugung noch im selben Jahr einstellen.

Laufzeit für Doel 1 und 2 2015 aber ohne UVP verlängert

Ende Juni 2015 wurde jedoch per Gesetz die Stromerzeugung in Doel 1 für etwa 10 Jahre erneut genehmigt (bis 15.02.2025) und das Ende der Stromerzeugung in Doel 2 um zehn Jahre verschoben (bis 01.12.2025). Diese Laufzeitverlängerung war an die Bedingung geknüpft, dass der Betreiber Electrabel etwa 700 Millionen Euro insbesondere in die Sicherheit der Reaktoren investiert. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) wurde für diese Investitionen nicht für erforderlich gehalten, da die Änderungen laut einer Vorprüfung nicht zu negativen radiologischen Auswirkungen oder zu signifikanten Veränderungen der bestehenden radiologischen Umweltauswirkungen führten.

Umweltverbände klagen gegen Verlängerungsgesetz

Zwei belgische Umweltverbände haben beim belgischen Verfassungsgerichtshof Nichtigkeitsklage gegen das Verlängerungsgesetz erhoben. Sie monieren, dass die Verlängerung ohne Umweltprüfung oder ein Verfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit erfolgt sei. Sie berufen sich auf das Übereinkommen von Espoo zur Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen, das Übereinkommmen von Aarhus über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten sowie auf die UVP-Richtlinie 2011/92/EU, die Habitatrichtlinie 92/43/EWG und die Vogelschutzrichtlinie  2009/147/EG (Doel grenzt an verschiedene europäische Natur- und Vogelschutzgebiete).

Belgisches Vorlagegericht: UVP Voraussetzung für Laufzeitverlängerung eines AKW?

Der belgische Verfassungsgerichtshof rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und bat um Auslegung dieser Übereinkommen und Richtlinien. Er wollte im Wesentlichen wissen, ob die Annahme eines Gesetzes zur Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung von Kernkraftwerken eine Prüfung der Umweltauswirkungen voraussetzt.

EuGH-Generalanwältin: Voraussetzungen für Entbehrlichkeit einer UVP bei gesetzlichen Maßnahmen

Generalanwältin Juliane Kokott schlägt in ihren Schlussanträgen vor, dies grundsätzlich zu bejahen. Sie erörtert zunächst die allgemeine Frage, ob gesetzliche Maßnahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen. Sie hebt hervor, dass die UVP-Richtlinie nicht für gesetzliche Maßnahmen gelte, wenn die Ziele der Richtlinie im Gesetzgebungsverfahren erreicht würden. Dazu gehöre vor allem das Ziel zu gewährleisten, dass Projekte, bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen sei, "vor Erteilung der Genehmigung" einer Prüfung in Bezug auf ihre Umweltauswirkungen unterzogen werden, aber auch das Ziel der Bereitstellung von Informationen sowie der Beteiligung der Öffentlichkeit. Erfülle ein Gesetzgebungsakt diese Kriterien und falle er somit nicht unter die UVP-Richtlinie ‒ was im vorliegenden Fall der belgische Verfassungsgerichtshof prüfen müsse, ‒ ist nach Ansicht der Generalanwältin auch den Anforderungen der Übereinkommen von Espoo und Aarhus genüge getan.

UVP-Richtlinie völkerrechtskonform auszulegen – AKW-Laufzeitverlängerung um 10 Jahre erfordert UVP

Anschließend befasst sich Kokott mit der Frage, ob die Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung von Kernkraftwerken einer Umweltprüfung bedarf. Sie legt dar, dass die Übereinkommen von Espoo und Aarhus eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung beziehungsweise eine Öffentlichkeitsbeteiligung mit Prüfung der Umweltauswirkungen der Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung von bestimmten Kernkraftwerken verlangten. Nach ihrer Ansicht ist die UVP-Richtlinie angesichts dessen entgegen der bisherigen Rechtsprechung zum Projektbegriff dahin auszulegen, dass sie für die Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung eines Kernkraftwerks um zehn Jahre eine Umweltverträglichkeitsprüfung verlange. Eine solche Prüfung einschließlich der Öffentlichkeitsbeteiligung müsse grundsätzlich vor der Entscheidung über die Verlängerung und nicht erst bei der Genehmigung der geplanten Ertüchtigungsmaßnahmen erfolgen. Zudem sei auch nach der Habitat-Richtlinie eine Verträglichkeitsprüfung erforderlich.

Gefährdung der Stromversorgungssicherheit kann Verzicht auf UVP rechtfertigen

Schließlich prüft Kokott die Frage, ob von der grundsätzlich bestehenden Prüfungspflicht aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses abgewichen werden kann. Ihr zufolge erlaubt es die UVP-Richtlinie, die Verlängerung des Zeitraums der industriellen Stromerzeugung eines Kernkraftwerks von der Verpflichtung zur Prüfung der Umweltauswirkungen auszunehmen, wenn dies erforderlich sei, um eine schwere und unmittelbar drohende Gefahr für ein wesentliches Interesse des betroffenen Mitgliedstaats, etwa die Stromversorgungssicherheit oder die Rechtssicherheit, abzuwenden, und die betroffene Öffentlichkeit sowie die Kommission informiert würden. Auf eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung könne hingegen nicht verzichtet werden. Ferner könne das öffentliche Interesse an der Gewährleistung einer Mindestversorgung mit Strom als Grund der öffentlichen Sicherheit und das darüber hinausgehende öffentliche Interesse an Stromversorgungssicherheit als Grund wirtschaftlicher Art im Sinne der Habitatrichtlinie angesehen werden, die die Durchführung eines Projekts trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung rechtfertigen könnten. Es sei allerdings zweifelhaft, ob der Verzicht auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung im Ausgangsfall notwendig war.

Aufrechterhaltung der Wirkungen des Verlängerungsgesetzes bei Verstoß gegen UVP-Pflicht möglich

Obwohl die Generalanwältin Anhaltspunkte dafür sieht, dass das belgische Gesetz über die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke Doel 1 und 2 ohne die erforderlichen vorherigen Umweltprüfungen erlassen worden sei und die Stromversorgungssicherheit oder die Rechtssicherheit dies nicht rechtfertigten, hält sie es nicht für ausgeschlossen, dass es in diesem Fall möglich wäre, die Wirkungen dieses Gesetzes aufrecht zu erhalten. Sie schlägt insoweit vor, die bestehende Rechtsprechung zur ausnahmsweisen Fortgeltung von Plänen und Programmen, die unter Verletzung der Richtlinie über die strategische Umweltprüfung erlassen worden seien, auf die Genehmigung von Projekten auszudehnen, über die ohne eine gebotene Umweltprüfung entschieden worden sei.

Voraussetzungen für Aufrechterhaltung der Wirkungen

Die innerstaatlichen Gerichte könnten die Wirkungen einer Entscheidung, die unter Verletzung einer unionsrechtlichen Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung erlassen worden sei, ausnahmsweise vorübergehend aufrecht erhalten, soweit diese Entscheidung umgehend nachträglich durch Heilung des Verfahrensfehlers legalisiert werde, aufgrund der vorliegenden Informationen und der anwendbaren Bestimmungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass die Entscheidung nach der Legalisierung in gleicher Form bestätigt werde, nach Möglichkeit keine zusätzlichen vollendeten Tatsachen geschaffen würden und zwingende öffentliche Interessen an der Aufrechterhaltung der Wirkungen gegenüber dem Interesse an der Wirksamkeit der Verpflichtung zur Durchführung der Umweltprüfung und dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz überwögen.

EuGH, Schlussanträge vom 29.11.2018 - C-411/17

Redaktion beck-aktuell, 29. November 2018.

Mehr zum Thema