Europas Anwälte bedroht I: Nimmt die Gewalt zu?
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Eine Umfrage des Rats der Europäischen Anwaltschaften zeigt: Angriffe auf Anwältinnen und Anwälte nehmen offenbar zu. Sie zeigt aber auch, dass viele Länder gerade erst anfangen, das Problem zu erfassen. Ein zweiteiliger Beitrag zum Tag des bedrohten Anwalts am Freitag beleuchtet die Lage in Europa.

Am 24. Januar 1977 wurden vier Gewerkschaftsanwälte und ein Kanzleiangestellter in Madrid von einer Gruppe antikommunistischer Neofaschisten getötet. Seit 2010 erinnern die europäischen Anwaltsorganisationen an dieses Ereignis mit dem internationalen Tag des bedrohten Anwalts - so auch am Freitag. Es ist ein Tag, der Gewalt gegen Anwältinnen und Anwälte gewidmet ist, Sichtbarkeit schafft und Missstände anprangert. 

Manche Fälle von Gewalt gegen Anwältinnen und Anwälte gehen groß durch die Presse – hierzulande, aber auch in ganz Europa. So zum Beispiel der Fall des irischen Migrationsrechtlers Imran Khurshid, der sich selbst an die Zeitung The Irish Times wandte, weil die Bedrohungen und Beleidigungen gegen ihn überhandgenommen hatten. Man würde seine Kanzlei niederbrennen und ihn aus dem Land jagen, hatten ihm Leute angedroht, denen die Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien und individueller Rechte ein Dorn im Auge ist, wenn es um Migrantinnen und Migranten geht. Oder der Fall der schwedischen Erbrechtsanwältin Marie-Louise Landberg, die von einem 65-jährigen Mann verfolgt und in ihrem eigenen Treppenhaus verprügelt wurde, weil es ihm nicht gefiel, dass sie in einer Erbstreitigkeit die Gegenseite erfolgreich vertreten hatte. Infolge des Angriffs erblindete Landberg.

Die meisten Angriffe auf Anwältinnen und Anwälte schaffen es jedoch niemals in die Schlagzeilen, sie sind Hörensagen im kleinen Kreis. Man weiß vielleicht von der einen oder anderen Kollegin, die so etwas erlebt hat. Einige haben womöglich die Polizei informiert oder die Anwaltskammer. Wenige, wie etwa die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, kämpfen aktiv um Aufmerksamkeit für ein Thema, das bisher nicht mehr war als ein Konglomerat aus Anekdoten.

Nehmen solche Angriffe zu? Das hat der Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) untersucht. Er hat in 18 Ländern eine Umfrage initiiert, welche die Häufigkeit und Auswirkungen von Angriffen auf Anwältinnen und Anwälte dokumentieren soll. In dem Report, den der CCBE im Dezember veröffentlicht hat, heißt es: "Die Notwendigkeit dieser Untersuchung wird insbesondere durch jüngste Beispiele in ganz Europa unterstrichen, die zeigen, dass Anwälte immer wieder ins Visier genommen werden". Es ist ein erster Versuch, das große Ganze zu erfassen.

Von der Anekdote zur Statistik: Mehr als die Hälfte erlebte Angriffe

Die gute Nachricht ist: Die meisten der rund 14.500 befragten Anwältinnen und Anwälte haben noch nie körperliche Gewalt im Rahmen ihrer Anwaltstätigkeit erlebt. Das ist eine der zentralen Erkenntnisse aus der CCBE-Umfrage. Verbale Gewalt, Belästigung und Drohungen sind dagegen viel weiter verbreitet. Laut Report haben 64% in den vergangenen Jahren verbale Aggression erlebt, 44% wurden belästigt, knapp 37% bedroht. Besonders schlimm war es in Polen, wo rund 83% der Befragten solche Angriffe erlebt haben, und in Österreich – hier waren es 74%. Aber auch in Deutschland waren knapp die Hälfte der Befragten betroffen.

Die Umfrage untersuchte auch, wie sich die Attacken auf die Betroffenen ausgewirkt haben. Obwohl viele der europäischen Anwältinnen und Anwälte angaben, keine direkten Auswirkungen wahrgenommen zu haben, fühlten sich durchschnittlich 25% durch die Angriffe in ihrer psychischen Gesundheit und 32% in ihrer Job-Zufriedenheit beeinträchtigt. Besonders oft gaben das Anwältinnen und Anwälte in Belgien, den Niederlanden, Portugal und Polen an. Auch in Deutschland hatten die Angriffe häufig eine Wirkung auf Betroffene: Nur rund 42% gaben an, gar keinen negativen Effekt wahrgenommen zu haben.

Jeder Dritte spielte mit dem Gedanken, die Anwaltschaft zu verlassen

Wer Opfer von Belästigungen, Drohungen oder sogar Gewalt wird, sucht naturgemäß einen Ausweg. Dass dieser Ausweg sein könnte, der Anwaltschaft den Rücken zu kehren, hat im Durchschnitt mehr als ein Drittel bereits erwogen. In Deutschland liegt der Anteil mit 22% etwas niedriger, doch in Belgien haben 70% der Befragten schon einmal mit dem Gedanken gespielt, zu gehen, genau wie 62% der spanischen und 63% der polnischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Besonders selten zogen das dagegen die dänischen (9%) und tschechischen (6%) Anwältinnen und Anwälte in Betracht.

Interessant wird sein, wie sich diese Zahlen in Zukunft entwickeln, denn knapp die Hälfte der 14.500 Befragten ist sich sicher: Die Angriffe nehmen zu. Das gaben etwa 46% an, während 37% unschlüssig waren. Dass sich die Lage zuletzt verbessert habe, fand nur knapp 1,5% der Befragten.

Umfrage lässt viele Fragen offen

Die Befragten teilen damit den Eindruck, die Lage der Anwältinnen und Anwälte in Europa habe sich verschlechtert. Trotzdem müssen die Ergebnisse der Umfrage bis zu einem gewissen Grad mit Vorsicht genossen werden. Da es die erste Umfrage dieser Art ist, können sie einen Anstieg noch nicht tatsächlich belegen. Sie dokumentiert lediglich, dass die befragten Anwältinnen und Anwälte von einem solchen ausgehen. Erst kommende Umfragen könnten das also belegen.

Zudem fällt auf, dass die Teilnehmerzahl in manchen Ländern sehr überschaubar war. So haben nur 26 tschechische Anwältinnen und Anwälte teilgenommen, aus Portugal etwa war es mit 55 Antworten nur 0,15% der portugiesischen Anwaltschaft. Aus Deutschland kamen Antworten von 3.500 Menschen, also gut 2% aller deutschen Berufsträger.

Außerdem waren die Fragen nicht in jedem Land gleich, was sich auf die Vergleichbarkeit der Ergebnisse auswirkt. Manche Staaten – auch Deutschland – haben den Fragenkatalog individuell angepasst, Zeiträume vergrößert, Fragen gestrichen oder hinzugefügt. Und es gibt noch mehr Variablen, über die die Umfrage keinen Aufschluss gibt – etwa das Alter, Geschlecht oder auch das Fachgebiet der betroffenen Anwältinnen und Anwälte. Diese Metadaten werden zwar erhoben, die Ergebnisse jedoch nicht danach aufgeschlüsselt. Werden Einzelanwälte häufiger angegriffen als Großkanzleianwältinnen? Werden Strafrechtler häufiger beleidigt als Familienrechtlerinnen? Denken junge Anwälte häufiger darüber nach, die Anwaltschaft zu verlassen als ältere? All das verrät die Umfrage nicht.

Niederländische Kammer weiß mehr

Die europäischen Anwaltschaften stehen demnach erst am Anfang, wenn es darum geht, das Problem von Aggressionen gegen Anwältinnen und Anwälte vollständig zu erfassen. Das gilt auch für Deutschland. Etwas weiter ist man da bereits in den Niederlanden. Dort hat man das Problem früher erkannt und die dortige Anwaltskammer hat bereits 2022 eine erste Umfrage durchgeführt.

Dank der zweiten Umfrage kann man nun ablesen, dass 2024 tatsächlich im Durchschnitt 5% mehr niederländische Anwältinnen und Anwälte verbale Aggressionen, Belästigungen und Drohungen erlebt haben als noch 2022. Die Zahl der Betroffenen physischer Gewalt sind dagegen gleichgeblieben. Die Kammer hat auch herausgefunden, dass sie meisten Betroffenen nicht nur eine Form der Aggression erleben, sondern häufig eine Kombination. Und dass sie sich im Vergleich zu 2022 häufiger an die Polizei, die lokale Kammer oder an Vorgesetzte wenden, jedoch seltener an Kolleginnen und Kollegen.

Frauen sind weit häufiger von Angriffen betroffen als Männer, auch das geht aus der niederländischen Umfrage hervor (63% zu 48%). Sie empfinden die Zwischenfälle auch häufiger als diskriminierend als ihre männlichen Kollegen. Berufsträger in Großkanzleien sind dagegen seltener betroffen als Einzelanwältinnen und -anwälte.

Anwälte wünschen sich mehr Hilfsangebote

Schließlich zeigt die niederländische Umfrage auch, dass die meisten Betroffenen damit zufrieden waren, wie ihr Arbeitgeber oder ihre Kolleginnen und Kollegen mit dem Angriff auf sie umgegangen waren. Ein Drittel hätte sich jedoch mehr Informationen, Training oder sonstige Hilfsangebote gewünscht. Die niederländische Kammer hat deshalb eine Taskforce eingerichtet, die Hilfsangebote für betroffene Anwältinnen und Anwälte bietet – von einem Notfalltelefon über Resilienz-Trainings bis hin zu einem kostenlosen Sicherheitscheck der Kanzeleiräume.

In den kommenden Monaten und Jahren wird es gelten, noch mehr Informationen zu generieren und die Mechanismen der Gewalt besser zu verstehen, damit passgenaue Hilfsangebote und Präventionsmaßnahmen etabliert werden können. Die niederländische Kammer macht es bereits vor. Auch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat auf beck-aktuell-Anfrage angekündigt, die Umfrage regelmäßig wiederholen und ggf. anpassen zu wollen. Sie stehe zudem in engem Kontakt mit Anwältinnen und Anwälten aus unterschiedlichsten Kammerbezirken, die Opfer von Bedrohungen wurden. "Die Situation erfordert nicht nur Solidarität untereinander, sondern auch Unterstützung durch unseren Rechtsstaat" sagte die Pressesprecherin der BRAK, Stephanie Beyrich, gegenüber beck-aktuell. "Es besteht Handlungsbedarf. Wir sind nicht bereit, Anwältinnen und Anwälte in dieser Situation alleine zu lassen."

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen, 23. Januar 2025.