Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung ohne Betriebsratsbeschluss

Dem Betriebsrat kann das Handeln seines Vorsitzenden nicht nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht zugerechnet werden, wenn er ohne ordnungsgemäße Beschlussfassung über seine Bevollmächtigung eine Betriebsvereinbarung abschließt. Das Bundesarbeitsgericht betonte, dass dieser bei Abschluss einer derartigen Abmachung zudem die Nebenpflicht habe, dem Arbeitgeber auf Verlangen zeitnah eine Abschrift der Sitzungsniederschrift auszuhändigen.

Industriemechaniker verlangt höhere Vergütung nach alter Betriebsvereinbarung

Ein Industriemechaniker prozessierte gegen seine Arbeitgeberin, eine Stahlfirma, über die Frage, welches Einstufungssystem für sein Gehalt anzuwenden ist. Im Unternehmen galt zunächst die Betriebsvereinbarung (BV) zur Eingruppierung nach analytischer Bewertung sowie zur Prämienzahlung aus dem Jahr 1967. 2017 verhandelten die Betriebsparteien über zwei ablösende Vereinbarungen zur Eingruppierung nach summarischer Bewertung sowie zur Prämienzahlung (BV Entlohnungsgrundsätze/Abschmelzung). Der Betriebsratsvorsitzende unterzeichnete die ablösende BV, ohne dass dazu ein Beschluss gefasst wurde. Die Firma berief sich auf eine Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden. Während das Arbeitsgericht Wuppertal einen weiteren Antrag auf Zahlung einer Differenzvergütung per Teilurteil abwies, missglückte das Gesuch beim LAG Düsseldorf gänzlich, weil ein Anspruch auf höheres Entgelt auf Grundlage der BV 1967 nicht bestehe. Die BV 2017 sei durch die Unterzeichnung des Vorsitzenden formell wirksam zustande gekommen, da sie nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht dem Betriebsrat zuzurechnen sei. Das BAG gab dem Kläger allerdings Recht.

Grundsätze der Anscheinsvollmacht sind nicht anwendbar

Den obersten Arbeitsrichtern zufolge ist das LAG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die vom Betriebsratsvorsitzenden unterzeichnete BV Grundsätze, für deren Abschluss der Betriebsrat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Beschluss gefasst habe, nach den Rechtsgrundsätzen über eine Anscheinsvollmacht rechtswirksam zustande gekommen sei. Ohne Betriebsratsbeschluss sei die Erklärung des Vorsitzenden (schwebend) unwirksam und könne daher keine Rechtswirkungen entfalten. Nach § 26 Abs. 2 Satz 1 BetrVG vertritt der Vorsitzende den Betriebsrat nur im Rahmen der von ihm gefassten Beschlüsse. Ihm stünde daher bereits von Gesetzes wegen keine Befugnis zur eigenen rechtsgeschäftlichen Willensbildung anstelle des Betriebsrats zu. Die rechtlichen Folgen einer auf Seiten des Betriebsrats angenommenen Anscheinsvollmacht gingen zudem über ihren Zweck hinaus, so das BAG weiter. Eine BV gelte aufgrund der in § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG angeordneten normativen Wirkung auch unmittelbar - und ohne jede weitere Voraussetzung - für die betriebszugehörigen Arbeitnehmer. Je nach Inhalt würde sich der vertragspartnerbezogene Schutz einer Anscheinsvollmacht damit rechtlich auch zulasten Dritter auswirken. Die Anerkennung einer Anscheinsvollmacht sei auch nicht notwendig: Der Arbeitgeber könne verlangen, dass ihm zeitnah eine Protokollabschrift der Betriebsratssitzung übergeben wird, aus der sich die ordnungsgemäße Bevollmächtigung entnehmen lasse. Das BAG verwies die Sache an das ArbG zurück, da es ein unzulässiges Teilurteil erlassen habe.

BAG, Urteil vom 08.02.2022 - 1 AZR 233/21

Redaktion beck-aktuell, 21. Juni 2022.