BAG: Ordentliche Kündigung im Kleinbetrieb

KSchG §§ 1 I, 23 I; ZPO § 138 II, III

1. Für das Überschreiten des Schwellenwertes gem. § 23 I 2 bzw. 3 KSchG trägt der Arbeitnehmer die Beweislast. Einer größeren Sachnähe des Arbeitgebers und etwaigen Beweisschwierigkeiten des Arbeitnehmers ist durch abgestufte Darlegungslast Rechnung zu tragen.

2. Entsprechend der Unterscheidung zwischen „Betrieb" und „Unternehmen" in § 1 I KSchG ist der Betriebsbegriff von § 23 I KSchG nicht mit dem des Unternehmens gleichzusetzen.

3. Eine Durchbrechung des Betriebsbezugs des Schwellenwerts ist verfassungsrechtlich nicht schon immer dann geboten, wenn sich das Unternehmen zwar in mehrere kleine, organisatorisch verselbständigte Einheiten gliedert, insgesamt aber mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt.

BAG, Urteil vom 02.03.2017 - 2 AZR 427/16 (LAG Berlin-Brandenburg), BeckRS 2017, 112126

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 25/2017 vom 29.06.2017

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit mehrerer ordentlicher Kündigungen. Die Bekl. ist eine konzernunabhängige Fondsgesellschaft. Sie unterhält zwei Betriebsstätten in H. und M. Der Kläger war bei ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit Juli 2011 als Vertriebsleiter beschäftigt. Bei der Bekl. waren im Februar/März 2014 neben dem Kläger insgesamt 8 Mitarbeiter in Vollzeit sowie ein Mitarbeiter mit 9 Arbeitsstunden wöchentlich beschäftigt. Darüber hinaus war im Büro H. die Mitarbeiterin B. als Leiterin Fondsmanagement tätig. Die Bekl. hat vorgetragen, die Entscheidungen über Einstellungen, Entlassungen, Versetzungen und Urlaubsgewährung treffe für die Betriebsstätte H. der für diese zuständige Geschäftsführer V. und für die Betriebsstätte M. der dortige Geschäftsführer H. Entsprechendes gelte für Personalgespräche und Personalbeurteilungen. Diesem Vorbringen ist der Kläger nicht in erheblicher Weise entgegengetreten. Die Bekl. kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 06.02., 21.02. und 04.03.2014 jeweils außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum 30.09.2014. Gegen diese Kündigungen hat sich der Kläger mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage gewandt und weitere Ansprüche erhoben. Durch mittlerweile rechtskräftig gewordenes Teilurteil des LAG steht u.a. fest, dass die außerordentlichen Kündigungen das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst haben. Bezogen auf die von der Bekl. hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigungen hat der Kläger geltend gemacht, sie seien sozial ungerechtfertigt iSd § 1 II 1 KSchG. Das KSchG finde Anwendung, weil die Bekl. einen einheitlichen Betrieb mit regelmäßig mehr als 10 Beschäftigten betreibe. Die Bekl. hat beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Das ArbG hat die Klage in Bezug auf die ordentlichen Kündigungen abgewiesen. Das LAG hat ihr stattgegeben und den Auflösungsantrag der Bekl. zurückgewiesen.

Entscheidung

Nach Auffassung des 2. Senats ist die vom LAG zugelassene Revision der Bekl. begründet. Der Kündigungsschutzantrag sei unbegründet. Bereits die ordentliche Kündigung der Bekl. vom 06.02.2014 habe das Arbeitsverhältnis zum 30.09.2014 aufgelöst. Der Kläger habe nicht in erforderlicher Weise dargelegt, dass die Betriebsstätten in H. und M. einen einheitlichen Betrieb iSd § 23 I KSchG bildeten. Der Schwellenwert gem. § 23 I 3 KSchG sei in den Betriebsstätten für sich genommen selbst bei voller Berücksichtigung der Mitarbeiterin B. unstreitig jeweils nicht erreicht. Mit dem vom Kläger nicht in ausreichender Weise bestrittenen und damit gem. § 138 II und III ZPO als zugestanden geltenden Vorbringen der Bekl. sei davon auszugehen, dass es sich bei den Betriebsstätten in H. und M. um eigenständige Betriebe iSd § 23 I KSchG handelte. Besondere Umstände, die in verfassungskonformer Auslegung von § 23 I KSchG ausnahmsweise ein Abstellen auf die Unternehmensgröße erforderten, seien weder vorgetragen noch objektiv ersichtlich. Einer Zurückverweisung der Sache an das LAG bedürfe es deshalb nicht. Der Senat könne selbst abschließend entscheiden, also das Urteil des LAG aufheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des ArbG Potsdam zurückweisen.

Praxishinweis

Der Entscheidung ist zuzustimmen. Der Betriebsbezug des § 23 I KSchG ist verfassungsrechtlich unbedenklich, solange dadurch nicht angesichts der vom Arbeitgeber geschaffenen konkreten Organisation die gesetzgeberischen Erwägungen für die Privilegierung von Kleinbetrieben bei verständiger Betrachtung ins Leere gehen und es nicht zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung betroffener Arbeitnehmer kommt (BVerfG BVerfGE 97, 169). Auch für eine missbräuchliche, allein auf die Verhinderung des Entstehens allgemeinen Kündigungsschutzes der Beschäftigten gerichtete willkürliche Zersplitterung des Unternehmens in mehrere eigenständige Einheiten lagen keine Anhaltspunkte vor.

Redaktion beck-aktuell, 4. Juli 2017.