Berücksichtigung der Rentennähe bei der sozialen Auswahl
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Bei der Gewichtung des Lebensalters im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung kann laut Bundesarbeitsgericht zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine Altersrente bezieht oder innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen dürfe insoweit nicht berücksichtigt werden.

Streit um Wirksamkeit zweier betriebsbedingter Kündigungen

Die 65-jährige Klägerin ist seit 1972 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde das Arbeitsverhältnis zunächst zum 30.06.2020 betriebsbedingt gekündigt. Der beklagte Insolvenzverwalter begründet die Kündigung damit, dass die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig sei. Sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 01.12.2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte gemäß §§ 38, 236b SGB VI zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmenden zurück. Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat kündigte der Insolvenzverwalter der Klägerin vorsorglich erneut zum 30.09.2020. Die Klägerin erhob gegen beide Kündigungen Kündigungsschutzklage.

Lebensalter darf zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigt werden

Wie die Vorinstanzen befand auch das BAG die erste Kündigung für unwirksam, die zweite hingegen nicht. Das Lebensalter dürfe im Rahmen der Sozialauswahl berücksichtigt werden. Das Auswahlkriterium sei aber ambivalent. So nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmende nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Sie falle aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmende entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß §§ 37, 236a SGB VI – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er schon eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO billigten den Betriebsparteien insofern einen Wertungsspielraum zu.

Aber: Andere Auswahlkriterien dürfen nicht außer Acht gelassen werden

Im Ergebnis sei die erste Kündigung dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien "Betriebszugehörigkeit" und "Unterhaltspflichten" erfolgt und deswegen grob fehlerhaft sei. Im Hinblick auf die vorsorgliche zweite Kündigung habe die Revision demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung sei wirksam und habe das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30.09.2020 aufgelöst.

BAG, Urteil vom 08.12.2022 - 6 AZR 31/22

Redaktion beck-aktuell, Miriam Montag, 9. Dezember 2022.