Die Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz (WOBetrVG) ist bekannt für ihre Liebe zum verfahrenstechnischen Detail. Besonders ausgeprägt ist die Leidenschaft für kleine Karos bei den Regelungen zur Briefwahl. Lesenswert ist beispielsweise § 24 Abs. 1 S. 2 WO BetrVG: "Die Wahlumschläge müssen sämtlich die gleiche Größe, Farbe, Beschaffenheit und Beschriftung haben." Solche Vorschriften können die Organisatoren zur Verzweiflung bringen, aber der Schreibwarenhändler freut sich.
Dabei hat Briefwahl gerade im Betrieb durchaus ihre Vorteile: Es gibt keine von Vorgesetzten misstrauisch beäugten Wege zur Wahlurne, und die Risiken kollegialer Einflussnahme werden ebenfalls minimiert. Umso bedauerlicher ist es, dass die WOBetrVG gerade für die Briefwahl einige Hürden errichtet. Insbesondere erlaubt sie es nur unter strengen Voraussetzungen, dass den Berechtigten Briefwahlunterlagen zugesandt werden, ohne dass sie danach verlangt hätten.
Der Wahlvorstand darf sich also nicht ohne Weiteres von sich aus für die Anordnung von Briefwahlen entscheiden. In § 24 Abs. 2 und Abs. 3 WOBetrVG ist abschließend geregelt, in welchen Fällen er diese Möglichkeit hat oder dazu verpflichtet ist:
"(2) Wahlberechtigte, von denen dem Wahlvorstand bekannt ist, dass sie
1. im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses, insbesondere im Außendienst oder mit Telearbeit Beschäftigte und in Heimarbeit Beschäftigte, oder
2. vom Erlass des Wahlausschreibens bis zum Zeitpunkt der Wahl aus anderen Gründen, insbesondere bei Ruhen des Arbeitsverhältnisses oder Arbeitsunfähigkeit, voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden, erhalten die in Absatz 1 bezeichneten Unterlagen, ohne dass es eines Verlangens der Wahlberechtigten bedarf. Der Arbeitgeber hat dem Wahlvorstand die dazu erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen.
(3) Für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, kann der Wahlvorstand die schriftliche Stimmabgabe beschließen. Absatz 2 gilt entsprechend.“
Betriebsratswahl hielt vor dem LAG
Der jetzt ergangene Beschluss des BAG (Beschluss vom 23.10.2024 – 7 ABR 34/23) betrifft die Betriebsratswahlen am VW-Stammwerk in Wolfsburg, die vom 14. bis zum 18. März 2022 durchgeführt wurden. Dies war zu durchaus turbulenten Zeiten. Aufgrund der Covid-Pandemie, den damit verbundenen Schutzmaßnahmen und Lieferengpässen bestand teilweise Kurzarbeit. Die Lieferprobleme weiteten sich aus, als kurz vor den Wahlen Russland die Ukraine überfiel.
Nachdem am 22. Februar 2022 und am 1. März 2022 anteilige und vollständige Arbeitsausfälle in bestimmten Unternehmensbereichen – auch für die Zeit der Stimmabgabe – gemeldet worden waren, beschloss der Wahlvorstand für alle von Kurzarbeit Betroffenen die Briefwahl. Etwa 33.000 Kurzarbeiter erhielten deshalb ohne ihr ausdrückliches Verlangen Briefwahlunterlagen zugesandt.
Das LAG Niedersachsen billigte dies und erklärte die Betriebsratswahlen für rechtmäßig. Dabei verwies es insbesondere auf den Wortlaut des § 24 Abs. 2 WOBetrVG, wo gefordert wird, dass die betreffenden Wahlberechtigten "voraussichtlich" nicht betriebsanwesend sein werden.
Das LAG erklärte, eine enge Auslegung dieser Vorgabe verböte sich, da sie das Risiko der Beschneidung von Wahlmöglichkeiten mit sich brächte. Eine großzügige Auslegung dagegen beträfe lediglich eine Ausübungsmodalität des Wahlrechts. Bei § 24 Abs. 2 WO BetrVG ginge es nicht um das positive Wissen des Wahlvorstands für jeden einzelnen Arbeitnehmer, dass dieser zur Wahlzeit betriebsabwesend oder -anwesend sein werde. Es genügte die Kenntnis davon, dass ein Arbeitnehmer zu einer Arbeitnehmergruppe gehörte, bei der die Abwesenheit eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit ist.
BAG verlangt weitere Sachverhaltsaufklärung
Erstaunlicherweise hat das BAG diesen weisen Beschluss des LAG Niedersachsen aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen. Das BAG erklärt laut Pressemitteilung, es könne auf der Grundlage der bisher festgestellten Tatsachen nicht beurteilt werden, ob der Wahlvorstand – insoweit unter Verstoß gegen § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO – die Briefwahlunterlagen auch an Arbeitnehmer übersandt hat, die zur mobilen Arbeit berechtigt waren und von denen er wusste, dass sie im Wahlzeitraum ihre Tätigkeit im Betrieb verrichten. Dazu sei weitere Sachverhaltsaufklärung durch das LAG notwendig. Somit sieht das Gericht in § 24 Abs. 2 WO BetrVG eine "wesentliche Wahlvorschrift über das Wahlverfahren" im Sinn des § 19 Abs. 1 BetrVG, so dass tatsächlich die Wirksamkeit der Wahl auf dem Spiel steht.
Offenbar stellt das BAG strengere Anforderungen als das LAG Niedersachsen an das "Wissen" des Wahlvorstandes darüber, ob Wahlberechtigte im Betrieb anwesend sein werden oder nicht – Näheres werden die Entscheidungsgründe zeigen. Sollte dies so sein, so wäre das bedauerlich. Schließlich muss es dem Betriebsratswahlrecht primär darum gehen, die Wahrnehmung der individuellen Wahlmöglichkeiten zu effektivieren.
Gesetzeslage entspricht nicht mehr der Realität im Unternehmen
Übrigens ist dies nicht der erste Fall, in dem sich das BAG mit einer Briefwahl bei VW befasst hat. Bereits vor zwei Jahren entschied es durchaus streng, dass die 2018 abgehaltenen Betriebsratswahlen bei VW am Standort Hannover-Stöcken unwirksam gewesen seien.
Dort war gemäß § 24 Abs. 3 S. 1 WO BetrVG eine Briefwahl in einigen "räumlich weit" entfernten Betriebsteilen durchgeführt worden. Dem BAG missfiel, dass hierbei auch drei Betriebsstätten miterfasst worden waren, die unmittelbar an das umzäunte Werksgelände in Stöcken angrenzten. Die Richter erklärten, die Betriebsteile seien nicht im Sinn des § 24 Abs. 3 S. 1 WO BetrVG "räumlich weit" vom Hauptbetrieb entfernt.
Zwar sei "räumlich weit" im Sinn des § 24 Abs. 3 S. 1 WOBetrVG anders zu verstehen als "räumlich weit" im Sinn des § 4 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Ansonsten liefe die Regelung des § 24 Abs. 3 S. 1 WO BetrVG weitgehend leer. "Räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt" sei funktional auszulegen und bedeutete Unzumutbarkeit der persönlichen Stimmabgabe im Hauptbetrieb. Da diese Unzumutbarkeit im konkreten Fall nicht gegeben gewesen war, bejahten die Richter einen Verstoß gegen § 24 Abs. 3 S. 1 WOBetrVG (Beschluss vom 16.3.2022 – 7 ABR 29/20).
Unabhängig von den konkreten Entscheidungen zeigt sich bei alledem, wie weit die WOBetrVG inzwischen von der betrieblichen Realität entfernt ist. Teilzeit und Mobilität haben mittlerweile so stark zugenommen, dass die Anwesenheit in der Nähe der Wahlurne an festen Wahltagen keineswegs gesichert ist. Das spricht deutlich für die Briefwahlmöglichkeit. Höchste Zeit ist es auch für die Zulassung einheitlicher digitaler Wahlen. Leider befindet sich das Bürokratiebollwerk WOBetrVG auch technisch noch im letzten Jahrhundert.
Prof. Dr. jur. Richard Giesen ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht an der LMU München und Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht.