Autokratischer Legalismus: Von autoritären Wölfen im Schafspelz der freiheitlichen Demokratie
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Autoritäre Herrscher stellen sich häufig nicht explizit über das Recht, sie benutzen es – vermeintlich, um dem wahren Willen des Volkes zu dienen. Das ist verführerisch und deshalb so gefährlich, erklärt Markus Kotzur.

Die Crux mit der Freiheit liegt in ihrem Wesen begründet: Wer frei ist, dem steht es auch frei, die Freiheit zu bekämpfen. Autokratische Akteure machen sich diese Ambivalenz gerne zu Nutze und die deutsche Debatte um die Grundgrundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) oder gar ein Parteiverbot (Art. 21 GG) im Kampf gegen Rechts zeigt, wie schwer sich der freiheitliche Verfassungsstaat damit tut, gleichzeitig seinem Freiheitsversprechen treu zu bleiben und die Feinde der Freiheit in ihre Schranken zu verweisen.

Umgekehrt wissen "aufgeklärte" Autokraten, dass allein mit den Muskeln der Macht zu spielen und auf Repression zu setzen, zu einem ressourcenintensiven und riskanten Unterfangen werden kann. Herrschaft, die ohne transzendente Begründung auskommen will, braucht im weitgehend säkularen 21. Jahrhundert nicht nur ihre große Legitimationserzählung, sie braucht auch tragfähige Legitimationsstrategien. Womit wir beim nicht ganz neuen, aber immer neu wiederkehrenden und angesichts der aktuellen Weltlage besonders intensiv diskutierten Thema des autokratischen Legalismus wären.

Herrschaft durch Recht mit neuer Sinnerzählung

Der Begriff beschreibt eine Herrschaftstechnik, mit deren Hilfe autokratische Systeme sich nicht durch den gewaltsamen Umsturz, sondern im Großen und Ganzen rechtsförmig, jedenfalls unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip und gestützt auf demokratische Legitimationsbehauptungen, zu etablieren suchen. Der Buchstabe der Verfassung soll vermeintlich gewahrt, ihre Eckpfeiler – die konstitutionelle Trias aus Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten – sollen erhalten bleiben, ihre Meistererzählung aber mit neuen Sinngehalten aufgeladen werden. In Krisenzeiten – von der globalen Finanzkrise über migrationsbedingte Herausforderungen bis hin zur Covid-19-Pandemie – sind verunsicherte, zugleich mehr und mehr unzufriedene politische Gemeinschaften besonders anfällig für eine solch transformative Sinnsuche. Viele hatten den Fortschritts- und Wohlstandversprechen der Globalisierung ohnehin schon lange misstraut und sehen sich durch multiple Krisen in ihrer Skepsis bestätigt.

Die Krisendynamik verbindet demokratische Selbstzweifel mit der Sehnsucht nach Problemlösungskompetenz durch Autorität. Der Konsens über die Gelingensbedingungen politischer Gemeinschaftsbildung, die Wertschätzung für Politik als Kunst des Möglichen und damit des Kompromisses schwindet. Die Verabsolutierung der je eigenen politischen Ordnungsvorstellungen gibt die prekäre, aber attraktive Antwort auf wachsende Verunsicherung. Suchende Selbstvergewisserung weicht unreflektierter Selbstbestätigung. Desinformation und Verschwörungsmythen jedweder Provenienz leisten dazu ihren ganz eigenen Beitrag. So unterschiedlich autoritäre Versuchungen in Polen, Ungarn, der Türkei, den USA oder Indien, aber auch in vielen anderen Ländern sein mögen, die stets eskalationsbereite Dialektik aus Verunsicherung und Verabsolutierung formt das gemeinsame Leitmotiv.

Autokraten verteidigen stets den "wahren Willen" des Volkes

In der Partitur des autokratischen Legalismus findet sich dieses Leitmotiv auf alle drei oben genannten Säulen des Konstitutionalismus hin auskomponiert und zur Strategie umgemünzt. Der demokratische Souverän wird, ganz in der Tradition eines Carl Schmitt, antipluralistisch-homogen gedacht, der angeblich "wahre Wille" des Volkes dem fragmentierten Einzelwillen angeblich machtvergessener Eliten gegenübergestellt und die politische Willensbildung nicht mehr diskursiv und deliberativ gedacht, sondern zu einer Art Selbstbehauptungsakt des Volkes essentialisiert. Immer geht es ums Ganze, ums kulturelle Überleben, um Alles oder Nichts, dort die glänzende Zukunft, hier der sichere Untergang. Tertium non datur. Mag die Rede von der illiberalen Demokratie von einem pluralistischen Standpunkt aus betrachtet in sich noch so widersprüchlich sein, sie bereitet allen, die an einen "wahren Willen" und eine dichotomisch gebaute Welt glauben, keinerlei Unbehagen. Sie operieren mit der absurden Gleichung von einer Mehrheit, die für das Ganze des Volkes spricht, dessen "wahren Willen" artikuliert und allen Untergangsdystopien die einzig "wahre" Überlebensperspektive entgegenhalten kann. Mit dem unverblümten Wahrheitsanspruch wird zugleich auch das inhaltlich Richtige, vor allem aber moralisch Überlegene dieses Willens suggeriert.

Autokratischer Machtsicherung dienen vor solchem Hintergrund Veränderungen des Wahlrechts zugunsten des Autokraten. Geht die Wahl nicht zu seinen Gunsten aus, werden Wahlbetrügereien behauptet und die Freiheit der Wahl als solche desavouiert. Auf einmal steht in Frage, was die freiheitliche Demokratie in ihrem Kern ausmacht: Herrschaft auf Zeit, gesichert durch friedlichen Machtwechsel. Der von Donald Trump zumindest hingenommene und von seinen Anhängerinnen und Anhängern organisierte Marsch auf das Kapitol nach der verlorenen Wahl im Januar 2021 und die spätere Begnadigung der deswegen verurteilten Straftäterinnen und Straftäter gehören zu den dunkeln Stunden der US-amerikanischen Demokratie. Und wer den Wahlakt als "Ermächtigung zur Selbstermächtigung" (so H. Prantl, SZ vom 18. Juli 2025, S. 5) missversteht, der tut nichts anderes als, gestützt auf das demokratische Versprechen selbstbestimmter Selbstregierung, die Herrschaft des Volkes gegen die Herrschaft des Volkes und damit alle Bürgerinnen und Bürger gegeneinander auszuspielen.

Rechtsstaatliche Angriffe auf den Rechtsstaat

Auch die Herrschaft des Rechts lässt sich gegen die Herrschaft des Rechts in Stellung bringen. Wird das demokratisch unmittelbar legitimierte Parlament in seinem gesetzgeberischen Tun wie derzeit durch Dekrete des US-Präsidenten ausgehebelt, so mag das im Rahmen des Legalen geschehen (Einzelfälle bleiben freilich umstritten), bedingt aber eine schrittweise Erosion des Gewaltenteilungsgrundsatzes. Typische, rechtsstaatlich verbrämte Angriffe gegen die Rechtsstaatlichkeit sind die Zerstörung bewährter administrativer Strukturen (oft unter dem Deckmantel notwendiger Sparmaßnahmen und Effizienzsteigerung), das Vorgehen gegen die Anwaltschaft durch finanzielle Repression, die Politisierung von Gerichten oder die Besetzung frei werdender Positionen in Exekutive und Judikative mit Loyalistinnen und Loyalisten. Auch wer die Gerichte bewusst mit einer Flut von Verfahren zu überziehen und effektiven Rechtsschutz auf diese Weise zu erschweren, wenn nicht zu vereiteln sucht, bekämpft den Rechtsstaat mit den Mitteln des Rechts.

Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen, sei an dieser Stelle indes auf die dritte "Säule", die Menschenrechte hin zugespitzt. Gegen den "wahren Willen des Volkes" können sich Minderheiten kaum behaupten. Das Demokratieprinzip gegen die Menschenrechte auszuspielen, gehört zum Standardrepertoire des autokratischen Legalismus und ist, neben dem Minderheitenschutz, auch im Migrations- und Flüchtlingsrecht eine gerne angewandte Praxis. Die permanenten Attacken gegen missliebige Medien, vermeintlich, um unwahre und ideologisch eingefärbte Berichterstattung zu unterbinden, höhlen die Pressefreiheit aus. Besonders perfide mutet an, den so wichtigen Kampf gegen den Antisemitismus zur Einschränkung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu instrumentalisieren oder das Recht auf Leben in ideologisch eingefärbten Kulturkämpfen aufzureiben.

Einen "Volkswillen" gibt es nicht – und das Recht darf ihm nicht folgen

Was aber folgt aus diesen ernüchternden Gegenwartsbefunden? Die Hoffnung, dass offene Bürgergesellschaften das Fundament ihrer Freiheit, den gelebten Pluralismus, wiederentdecken, wiedererlernen, dass sie Vielfalt der Meinungen und Werthaltungen als Stärke, als kreatives Problemlösungspotential neu begreifen und entschlossen dafür eintreten mögen. Kim Lane Schepple, eine der führenden Autorinnen zum autokratischen Legalismus, verdichtet diese Hoffnung zur Forderung: "Law is too important to leave only to the lawyers. A citizenry trained to resist the legalistic autocrats must be educated in the tools of law themselves. Liberal and democratic constitutionalism cannot remain an elite ideal that has no resonance in the general public (…). Citizens need to be trained as constitutionalists – to understand the point of constitutionalism, to recognize threats to self-sustaining democracy, and to care about defending liberal values" (Autocratic Legalism, in: The university of Chicago Law Revie 85 (2018). S. 545 ff., 583).

Das Ideal der Bürgerdemokratie ermahnt uns, demokratische Politik als "Denken in Alternativen" (Peter Häberle) und nicht als Kampf zwischen Gut und Böse zu verstehen; die Stärke der Demokratie nicht im "Außer-Streit-Stellen", sondern im Ertragen des konstruktiven Bestreitens zu sehen. Weil sich über Behauptungen ohne Begründungen nicht streiten lässt, sind absolute Wahrheiten mit moralischem Richtigkeitsanspruch so verführerisch, erscheint die Suche nach dem "wahren Willen" des Volkes so naheliegend. Wer aber an diesen wahren Willen glaubt und das Recht in seinen Dienst stellen will, verkennt das Wesen von Rechtsstaat und Demokratie. Was bliebe, wäre eine autoritäre Karikatur von beidem, und die kann nun keiner wirklich wollen.

Prof. Dr. Markus Kotzur, LL. M. (Duke Univ.) ist Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Hamburg.

Prof. Dr. Markus Kotzur, LL. M., 5. August 2025.

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