Auch nichteheliche Kinder ausgebürgerter NS-Verfolgter haben Anspruch auf Einbürgerung
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Ein nichteheliches Kind, dessen Vater vom NS-Regime verfolgt und ausgebürgert wurde, hat Anspruch auf seine Einbürgerung. Ihm kann nicht entgegengehalten werden, es hätte als nichteheliches Kind die deutsche Staatsangehörigkeit auch ohne Ausbürgerung seines Vaters nicht erlangen können. Dies verstieße gegen das Verbot der Diskriminierung nichtehelicher Kinder und das Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau, entschied das Bundesverfassungsgericht und gab der Verfassungsbeschwerde der Tochter eines jüdischen Emigranten statt.

Jüdischer Vater der Beschwerdeführerin 1938 ausgebürgert

Die Beschwerdeführerin wurde 1967 in den USA geboren und ist wie ihre Mutter US-amerikanische Staatsangehörige. Ihrem 1921 geborenen Vater wurde 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Er war als Jude in die USA geflohen. Die Eltern der Beschwerdeführerin waren nicht verheiratet. Der Vater erkannte sie als sein Kind an. Sie beantragte 2013 die Einbürgerung gemäß Art. 116 Abs. 2 GG und begründete im Bundesgebiet ihren Wohnsitz.

Behörden verweigerten Beschwerdeführerin Einbürgerung

Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Antrag auf Einbürgerung ab. Zwar habe der Vater der Beschwerdeführerin zu dem Personenkreis des Art. 116 Abs. 2 GG gehört. Zusätzlich sei jedoch eine hypothetische Prüfung erforderlich, ob der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit bei ihrem Vater Auswirkungen auf den Erwerb oder Nichterwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch sie gehabt habe. Die Beschwerdeführerin sei nichtehelich geboren worden und habe deshalb die Staatsangehörigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht von ihrem Vater erwerben können.

Beschwerdeführerin rügt Diskriminierung nichtehelicher Kinder

Die Klage auf dem Verwaltungsrechtsweg blieb bis hin zur Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung erfolglos. Die Beschwerdeführerin legte Verfassungsbeschwerde ein und rügte eine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 sowie Art. 6 Abs. 5 GG.

BVerfG: Gleichbehandlungsgebote zu berücksichtigen

Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die Entscheidungen der Gerichte aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG seien frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen 1933 und 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden sei, und ihre Abkömmlinge auf Antrag wieder einzubürgern. Bei der Auslegung der Vorschrift seien die Wertentscheidungen der Art. 6 Abs. 5 GG und des Art. 3 Abs. 2 GG zu berücksichtigen. Art. 6 Abs. 5 GG enthalte den Verfassungsauftrag, alle Kinder ungeachtet ihres Familienstandes gleich zu behandeln. Daneben verbiete Art. 3 Abs. 2 GG die rechtliche Differenzierung nach dem Geschlecht und schütze sowohl Männer als auch Frauen vor Benachteiligung.

Instanzgerichte legten zu Unrecht engen Abkömmlingsbegriff zugrunde

Die Instanzgerichte hätten der Bedeutung und Tragweite des Art. 6 Abs. 5 GG und des Art. 3 Abs. 2 GG bei der Auslegung des Begriffs "Abkömmlinge" im Sinne von Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend Rechnung getragen. Denn trotz der offenen Formulierung des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG hätten sie einen engen Abkömmlingsbegriff zugrunde gelegt. Sie hätten sich dafür auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gestützt, wonach der Einbürgerungsanspruch des Abkömmlings ein rechtliches Verhältnis zum Ausgebürgerten voraussetze, an welches das Staatsangehörigkeitsrecht den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit knüpfe. Dabei hätten sie aber nicht beachtet, dass ein weiter Abkömmlingsbegriff, der auch nichteheliche Kinder eines ausgebürgerten deutschen Vaters umfasse, den Wertentscheidungen des Grundgesetzes besser entspreche als eine enge Auslegung.

Wiedergutmachungszweck steht enger Auslegung entgegen

Dem Wortlaut des Art. 116 Abs. 2 GG lasse sich eine Eingrenzung auf eheliche Abkömmlinge nicht zwingend entnehmen. Die systematische Stellung des Art. 116 Abs. 2 GG spreche zudem dafür, dass nichteheliche Kinder ebenso wie im Anwendungsbereich des Art. 116 Abs. 1 GG vom Abkömmlingsbegriff umfasst seien. Nach seinem Sinn und Zweck diene Art. 116 Abs. 2 GG der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Gesetzeszweck der Wiedergutmachung stehe einer einengenden Auslegung grundsätzlich entgegen, was ebenfalls für eine Einbeziehung der nichtehelichen Kinder eines ausgebürgerten Vaters spreche.

Enge Auslegung würde überholte Wertentscheidungen fortschreiben

Die Ausbürgerung von jüdischen Staatsbürgern im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung bleibe ein historisches Geschehen, das als solches nicht nachträglich beseitigt werden könne. Art. 116 Abs. 2 GG wolle aber das Unrecht, das den ausgebürgerten Verfolgten angetan worden sei, im Rahmen des Möglichen ausgleichen. Eine weite Auslegung erscheine auch deshalb angezeigt, weil im Rahmen der hypothetischen Prüfung bei der Einbürgerung von Abkömmlingen nicht mehr in Kraft befindliche Regelungen des Staatsangehörigkeitsrechts perpetuiert würden, die den Wertentscheidungen des Grundgesetzes zuwiderliefen. Schließlich lasse sich auch der Entstehungsgeschichte ein Ausschluss von nichtehelichen Kindern nicht entnehmen.

Verstoß gegen Verbot der Diskriminierung nichtehelicher Kinder

Eine weite Auslegung sei somit geboten, so das BVerfG. Die Auslegung der Verwaltungsgerichte verstoße zuvörderst gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 6 Abs. 5 GG. Wenn es dem Verfassungsgeber notwendig erschienen sei, Differenzierungen nach der Abstammung durch einen besonderen Verfassungssatz zu verbieten, damit diese unter dem Grundgesetz wirksam ausgeschlossen werden, spreche dies gegen eine Auslegung des Grundgesetzes an anderer Stelle, die nichteheliche Kinder vom Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ihren Vater ausschließe. Art. 6 Abs. 5 GG stelle mit dem Verbot der Diskriminierung nichtehelicher Kinder die menschliche Persönlichkeit und ihre Würde in den Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung und des gesamten Rechts. Diese Wertentscheidung müsse auch bei der Bestimmung des Begriffs "Abkömmlinge" in Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG beachtet werden. Die in dem heute nicht mehr gültigen Staatsangehörigkeitsrecht vorgenommene ausschließliche Zuordnung des nichtehelichen Kindes zu seiner Mutter sei weder nach der BVerfG-Rechtsprechung ein wesentlicher noch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein sehr gewichtiger Grund, der die Ungleichbehandlung des nichtehelichen Kindes beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit rechtfertigen könnte.

Auch Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG

Daneben sei es auch mit Art. 3 Abs. 2 GG als objektivem Wertmaßstab nicht vereinbar, wenn der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Abstammungsprinzip nur im Verhältnis zu einem Elternteil, im Falle einer nichtehelichen Geburt allein zur Mutter, anerkannt wird. Denn eine Regelung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Vaters oder der Mutter regele nicht nur den objektiven Status des Kindes, sondern berühre auch unmittelbar die Rechtsstellung der Elternteile in ihrem Verhältnis zum Staat wie zur Familie. Das Abstammungsprinzip als Grundlage des Staatsangehörigkeitserwerbs solle zum einen die Bindung an die eigenständige soziale Einheit der Familie vermitteln und gewährleisten. Zum anderen mache die gemeinsame Bindung an eine bestimmte staatliche Gemeinschaft einen Teil der vielfältigen engen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern aus und trage dazu bei, den Zusammenhang in der Familie zu dokumentieren und zu stärken. Die Wertentscheidung des Art. 3 Abs. 2 GG werde verfehlt, wenn ein solcher Zusammenhang abhängig vom Geschlecht nur im Verhältnis von Mutter und Kind, nicht aber im Verhältnis von Vater und Kind anerkannt wird. Dies gelte bei einer Auslegung der Vorschriften des Staatsangehörigkeitsrechts im Lichte der Wertentscheidungen des Grundgesetzes nicht nur, wenn die Eltern des Kindes miteinander verheiratet sind, sondern auch dann, wenn es um das Verhältnis eines nichtehelichen Kindes zu seinen Eltern geht.

BVerfG, Beschluss vom 20.05.2020 - 2 BvR 2628/18

Redaktion beck-aktuell, 17. Juni 2020.