Zwei­fel an AU: Be­han­deln­de Ärz­tin kann sach­ver­stän­di­ge Zeu­gin sein

Wird eine Ar­beits­un­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung (AU) vom Ar­beit­ge­ber er­schüt­tert, muss der Ar­beit­neh­mer dar­le­gen und be­wei­sen, dass er krank­heits­be­dingt ar­beits­un­fä­hig war. Das kann laut ArbG Ber­lin auch durch Ver­neh­mung der be­han­deln­den Ärz­tin als sach­ver­stän­di­ge Zeu­gin er­fol­gen.

Eine Rei­ni­gungs­kraft kün­dig­te im Mai 2023 ihr Ar­beits­ver­hält­nis zum 15.06.2023. Zum Ende des Ar­beits­ver­hält­nis­ses woll­te sie Ur­laub neh­men, um ihre Fa­mi­lie zu be­su­chen. Ihr Ar­beit­ge­ber lehn­te das aber ab. 10 Tage spä­ter mel­de­te sich die Rei­ni­gungs­kraft krank und legte eine Ar­beits­un­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung für den Zeit­raum vom 22.05. bis zum 15.06.2023 vor. Der Ar­beit­ge­ber be­zwei­fel­te ihre Ar­beits­un­fä­hig­keit und zahl­te für den Zeit­raum kei­nen Lohn.

Die an­schlie­ßen­de Klage der Rei­ni­gungs­kraft auf Ent­gelt­fort­zah­lung für den be­schei­nig­ten Zeit­raum hatte beim ArbG Ber­lin Er­folg (Ur­teil vom 19.03.2024 - 22 Ca 8667/23). Die krank­heits­be­ding­te Ar­beits­un­fä­hig­keit ergab sich für das Ge­richt aber nicht schon aus der AU. Denn deren Be­weis­wert sah es durch den Ar­beit­ge­ber er­schüt­tert. Der Ver­dacht habe nahe ge­le­gen, dass die Rei­ni­gungs­kraft nach dem ab­ge­lehn­ten Ur­laubs­an­trag eine Er­kran­kung vor­ge­scho­ben hat. Zwar habe sie sich erst 10 Tage nach der Ab­leh­nung des An­trags krank ge­mel­det; sie habe aber nach ihrem ei­ge­nen Vor­trag nicht vor dem 22.05.2023 in Ur­laub gehen wol­len. Au­ßer­dem habe ihr Ar­beit­ge­ber auf die be­schei­nig­te Dia­gno­se, eine de­pres­si­ve Epi­so­de, und dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie gleich am 16.06.2023 einen neuen Job be­gon­nen habe. Das wäre aber bei einer sol­chen Er­kran­kung nicht mög­lich ge­we­sen.

Hoher Be­weis­wert einer ord­nungs­ge­mä­ßen AU bei Be­weis­wür­di­gung zu be­ach­ten

Die Er­schüt­te­rung des Be­weis­werts hatte zur Folge, dass die Rei­ni­gungs­kraft dar­le­gen und be­wei­sen muss­te, dass sie krank­heits­be­dingt ar­beits­un­fä­hig war. Zum Be­weis hatte sie die Ver­neh­mung ihrer be­han­deln­den Ärz­tin als sach­ver­stän­di­ge Zeu­gin an­ge­bo­ten. Das ArbG ver­nahm die Ärz­tin und kam zu der Über­zeu­gung, dass die Rei­ni­gungs­kraft in dem be­schei­nig­ten Zeit­raum an einer Er­schöp­fungs­de­pres­si­on litt und des­halb ar­beits­un­fä­hig war.

Laut ArbG war bei der Be­weis­wür­di­gung der Aus­sa­ge zu be­ach­ten, dass einer ord­nungs­ge­mäß aus­ge­stell­ten AU ein hoher Be­weis­wert zu­kom­me. Dazu dürfe sich die Be­weis­wür­di­gung nicht in Wi­der­spruch set­zen. Des­halb dürfe das Ge­richt davon aus­ge­hen, dass die ärzt­li­che Dia­gno­se rich­tig ist, wenn es sich davon über­zeugt hat, dass sie pflicht­ge­mäß er­stellt wurde. Dazu könne die Ar­beits­un­fä­hig­keits-Richt­li­nie (AU-RL) her­an­ge­zo­gen wer­den.

Das Ge­richt müsse da­nach davon über­zeugt sein, dass die Ärz­tin oder der Arzt die Ar­beit­neh­me­rin oder den Ar­beit­neh­mer vor der Krank­schrei­bung zu­nächst per­sön­lich un­ter­sucht hat. Dabei könne auf­grund der oft vol­len Arzt­pra­xen schon eine nur we­ni­ge Mi­nu­ten dau­ern­de Un­ter­su­chung ge­nü­gen. Fer­ner müsse es davon über­zeugt sein, dass der Arzt bei der Dia­gno­se­stel­lung den Ge­sund­heits­zu­stand be­rück­sich­tigt hat und es sich bei der AU ins­be­son­de­re nicht um ein "Ge­fäl­lig­keitsat­test" han­delt.

Au­ßer­dem müsse für das Ge­richt fest­ste­hen, dass die Ar­beit­neh­me­rin auf­grund der Er­kran­kung ar­beits­un­fä­hig war. Das setze vor­aus, dass auch die Ärz­tin oder der Arzt auf­grund tat­säch­li­cher An­halts­punk­te an­ge­nom­men hat, dass die Ar­beit­neh­me­rin oder der Ar­beit­neh­mer wegen der Er­kran­kung nicht ar­bei­ten kann. Dabei komme es auf die kon­kre­te Tä­tig­keit an. Der Arzt müsse daher den Ar­beit­neh­mer in der Regel nach sei­ner Ar­beit und den damit ver­bun­de­nen Be­las­tun­gen be­fra­gen und die Er­geb­nis­se auch bei der Dauer der Krank­schrei­bung be­rück­sich­ti­gen. Das ArbG konn­te sich im hie­si­gen Fall ent­spre­chend über­zeu­gen und ver­ur­teil­te den Ar­beit­ge­ber zur Zah­lung.

ArbG Berlin, Urteil vom 19.03.2024 - 22 Ca 8667/23

Redaktion beck-aktuell, hs, 5. November 2024.

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