Im Mai 2019 entschied der EuGH, dass die EU-Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. An dieses Urteil anschließend leitete das BAG in einem Grundsatzurteil vom September 2022 mittels unionsrechtskonformer Auslegung aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG her, dass Arbeitgeber Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden der Beschäftigten erfassen müssen. Bei der Ausgestaltung hätten die Arbeitgeber einen Gestaltungsspielraum.
Im April 2023 reagierte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) auf die beiden Urteile und legte einen Referentenentwurf zur Einführung einer allgemeinen Pflicht zur Arbeitszeiterfassung vor (NJW-Spezial 2023, 340). Danach sollen die Arbeitgeber verpflichtet werden, die Arbeitszeit elektronisch aufzuzeichnen. Vertrauensarbeitszeit, bei der der Arbeitgeber darauf verzichtet, Beginn und Ende der Arbeitszeit festzulegen und darauf vertraut, dass Beschäftigte ihrer Arbeitsverpflichtung nachkommen, soll weiterhin möglich sein. Der Arbeitgeber müsse dabei sicherstellen, dass er von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz erfährt.
Das veranlasste die Unionsfraktion zu einem Antrag
im Bundestag (BT-Drs. 20/6909), in dem sie den Referentenentwurf harsch
kritisiert und flexible Regelungen fordert: "Dieser Entwurf ist ausgesprochen unausgewogen und würde sowohl
die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber mit überflüssiger Bürokratie gängeln",
heißt es dort und auch "Der Entwurf würde zudem das Ende für
selbstbestimmte Vertrauensarbeitszeiten bedeuten". Die Linksfraktion stellte ebenfalls einen Antrag (BT-Drs. 20/1852). Sie fordert eine taggenaue, lückenlose
Dokumentation der geleisteten Arbeitsstunden.
Gewerkschaften: BAG-Urteil eng auslegen
Wie der parlamentarische Pressedienst berichtet, betonten
die Vertreter der Arbeitgeberverbände am Montag in
der Expertenanhörung entsprechend dem Unionsantrag die Notwendigkeit von
Spielräumen und Flexibilität. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) trat
hingegen wie der Antrag der Linken für die taggenaue Aufzeichnung von
Arbeitszeit und Ruhepausen ein.
Aus Sicht von Isabel Eder vom DGB ist die
Vertrauensarbeitszeit in der Vergangenheit nur "pervertiert" angewendet worden,
die Beschäftigten seien mit einer Menge an zu bewältigenden Aufgaben
alleingelassen worden. Insofern gebe es keinen Regelungsbedarf. Eine enge
Auslegung des BAG-Urteils wäre nach Ansicht des DGB wünschenswert. Im Übrigen
gebe es bereits jetzt genügend Flexibilisierungsmöglichkeiten im
Arbeitszeitgesetz. Der DGB plädierte für die Beibehaltung des Achtstundentages,
der von erheblicher Bedeutung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz sei. Er
sprach sich ferner für eine Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit aus.
Unterstützt wurde diese Position von Nils Backhaus
von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, der darauf hinwies,
dass 80% der Beschäftigten ihre Arbeitszeit bereits erfassten. Diese verfügten
über mehr zeitliche Spielräume als jene, die dies nicht tun. Einfluss auf die
Arbeitszeit zu haben, wirke sich aus Sicht des Arbeitsschutzes positiv aus,
sagte Backhaus. Lange Arbeitszeiten könnten hingegen zu psychosomatischen
Beschwerden führen bis hin zu Depressionen und Angststörungen,
Stoffwechselerkrankungen oder Erschöpfungszuständen. Schicht-, Nacht- und
Wochenendarbeit seien ungünstig, weil sie sozial wertvolle Zeit blockierten,
Schichtarbeit könne gar das Krebsrisiko erhöhen.
Arbeitgeber: Vertrauensarbeitszeit wichtiges Element der betrieblichen Praxis
Dagegen unterstrich Roland Wolf von der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dass der Erhalt der
Vertrauensarbeitszeit ein wichtiges Element der betrieblichen Praxis sei. Er schlug vor, die Höchstarbeitszeit auf die Woche zu verteilen. Das BAG habe die
Vertrauensarbeitszeit bestätigt, deshalb sollte aus seiner Sicht daran
festgehalten und nicht in Arbeitsverträge eingegriffen werden. Nach seiner
Interpretation des EuGH-Urteils muss der Arbeitgeber nur ermöglichen, dass die
Arbeitszeit erfasst werden kann. Er sei aber nicht verpflichtet, diese selbst
zu erfassen.
Oliver Zander vom Gesamtverband der
Arbeitgeberverbände der Elektro- und Metall-Industrie (Gesamtmetall) wies
darauf hin, dass mehrere Berufsgruppen bereits artikuliert hätten, nicht in die
Arbeitszeiterfassung einbezogen werden zu wollen: die Richter, die
Wissenschaft, die Anwaltskanzleien, die Lehrer. Auch die Arbeitnehmer mit
Vertrauensarbeitszeit wollten ausgenommen werden. In der Vertrauensarbeitszeit
gebe es einen guten Ausgleich, sagte Zander mit Blick auf die Forderung der
Linken nach "minutengenauer" Arbeitszeit-Aufzeichnung. Daran hätten
die Arbeitnehmer kein Interesse. Zander ermunterte die Koalition, "Vertrauensarbeitszeit
wieder zu ermöglichen". Andernfalls würde eine "gute, eingeübte
Kultur verschüttet". Aus seiner Sicht würde das EuGH-Urteil eine "Vereinbarungslösung"
ermöglichen.
Handwerk gegen Pflicht zur elektronischen Erfassung
Jan Dannenbring vom Zentralverband des Deutschen
Handwerks (ZdH) betonte den Grundsatz der Formfreiheit, die
Arbeitszeiterfassung müsse flexibel gehandhabt werden können. Im Baugewerbe
gebe es Arbeitsplätze, die der elektronischen Zeiterfassung Grenzen setzen,
etwa bei wechselnden Einsatzorten. Viele kleinere Unternehmen würden dadurch
überfordert. Dannenbring plädierte für die Tarifbindung, um in Tarifverträgen
flexible Regelungen zu bekommen. Aus seiner Sicht wäre es wünschenswert, wenn
der Gesetzgeber Tarif-Öffnungsklauseln ermöglichen würde.
Für eine flexible Arbeitszeiterfassung machte sich
auch Wolfgang Molitor vom Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks
stark. Eine Wochen-Erfassung der Arbeitszeit hielt er für richtig. Eine
taggenaue elektronische Zeiterfassung sei nicht überall möglich, weil
verschiedene Dienstleistungen an verschiedenen Orten erbracht werden müssten.
Auch seien viele Beschäftigte skeptisch gegenüber dieser Art der
Arbeitszeiterfassung.
Jura-Professoren: "Mehr Freiheit" versus Gesundheit und manipulationssichere Arbeitszeiterfassung
Unterschiedliche Sichtweisen gab es auch bei den
Jura-Professoren. Gregor Thüsing von der Universität Bonn sprach sich für
tarifliche Öffnungsklauseln aus. Der EU-Gesetzgeber gehe von einer
Wochen-Höchstarbeitszeit von 48 Stunden aus, kombiniert mit Ruhezeiten sei dies
ein genügender Schutz. Die Regierung sollte sich daran orientieren, so Thüsing,
"mehr Freiheit" zu wagen.
Christiane Brors von der Universität Oldenburg
sagte, auf Dauer länger als acht Stunden pro Tag zu arbeiten, sei ungesund.
Mobiles Arbeiten führe zur Entgrenzung von Arbeit und Freizeit. Die Zunahme von
psychischen Erkrankungen zeige, dass ein modernes Arbeitsrecht Begrenzungen
brauche. Gebraucht werde auch eine manipulationssichere Arbeitszeiterfassung.
Aus ihrer Sicht wird es auf eine taggenaue Aufzeichnungspflicht, die zu
Kontrollzwecken auch digital sein sollte, hinauslaufen.
Bußgeld bei Verstößen vorsehen
Thomas Klein von der Hochschule für Technik und
Wirtschaft des Saarlandes ging auf die Vertrauensarbeitszeit ein, von der nicht
klar sei, "was es ist". Wenn damit gemeint sei, dass die Beschäftigten
ihre Arbeitszeit selbst festlegen, dann wäre dies nach dem EuGH-Urteil
weiterhin möglich. Die Höchstarbeitszeiten dürften jedoch nicht überschritten
werden. Klein trat für eine "Modifizierung der Beweislast" im
Hinblick auf den Nachweis von Arbeitszeit ein und monierte, dass Verstöße gegen
die Aufzeichnungspflicht kein Bußgeld für den Arbeitgeber zur Folge hätten.
Frank Bayreuther von der Universität Passau plädierte für eine klare gesetzliche Vorgabe, dass eine Behörde bei Verstößen ein Bußgeld verlangen kann. Er widersprach auch der Ansicht, der Arbeitgeber könne selbst entscheiden, ob er von der Arbeitszeiterfassung Gebrauch machen wolle oder nicht.