Seit Monaten wird immer wieder über einen Zusammenbruch der wackeligen Ampel-Koalition geschrieben und spekuliert. Nun – nach einem vielfach als Affront gegenüber den Koalitionspartnern verstandenen Entwurf eines Wirtschaftsplans aus dem Haus von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) – wird ernsthafter denn je diskutiert, ob die Regierung bis zum regulären Wahltermin im kommenden Jahr durchhalten wird oder vielleicht sogar vorzeitige Neuwahlen anstehen könnten. Am Mittwochvormittag forderte zuletzt Unions-Fraktionsvize Jens Spahn in Anbetracht des US-Wahlergebnisses Neuwahlen in Deutschland.
Bereits in den vergangenen Tagen trafen sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Finanzminister Lindner im Kanzleramt zu Beratungen, auch im Laufe des Mittwochs sind Treffen geplant. Zum Showdown dürfte es am Mittwochabend kommen. Dann tritt mit dem Koalitionsausschuss eine größere Runde zusammen, der auch die Partei- und Fraktionschefs von SPD, Grünen und FDP angehören. Aktuell spricht wenig dafür, dass noch eine gesichtswahrende Lösung für alle Beteiligten möglich wäre.
Konkret müssen vor der entscheidenden Sitzung des Haushaltsausschusses zum Etat 2025 am 14. November klaffende Finanzierungslücken geschlossen werden. Eine Einigung wird entscheidend dafür sein, ob die Ampel-Koalition noch eine Zukunft hat. Zuletzt ging Wirtschaftsminister Habeck am Montag einen Schritt auf die Liberalen zu und bot an, freiwerdende Fördermilliarden zum Stopfen von Haushaltslöchern zu verwenden. Doch falls das nicht genügen sollte: Was würde das vielbeschworene "Ende der Ampel" wirklich bedeuten?
FDP-Ausstieg bedeutet kein Ende der Scholz-Regierung
Es ist keineswegs so, als könnte der Ausstieg einer Partei oder gar einzelner Minister wie Lindner oder Habeck eine Neuwahl herbeiführen. Zwar könnte Lindner als FDP-Parteichef "seine" Leute aus der Regierung abziehen, doch das würde die Regierung als solche nicht beenden. In Art. 62 ff. des Grundgesetzes macht der Abschnitt über die Bundesregierung klar: Der Bundeskanzler ist mit der Bildung einer Regierung beauftragt und an seinem Amt hängt auch ihr Bestand. In Art. 64 Abs. 1 GG heißt es: "Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen." Außerdem regelt § 9 Abs. 2 S. 2 BMinG: "Die Bundesminister können jederzeit entlassen werden und ihre Entlassung jederzeit verlangen."
In einem hypothetischen Szenario, in welchem zum Beispiel die FDP kein Interesse mehr an einer weiteren Zusammenarbeit hätte, könnten ihre Ministerinnen und Minister zwar "kündigen", Bundeskanzler Scholz könnte jedoch anschließend einfach jemand Neues aussuchen – im Zweifel aus seiner eigenen Partei oder aus einer Oppositionspartei, die sich der Regierung anschließen würde. Denn keine Partei hat formal Anspruch auf bestimmte Ministerien. Die gegenwärtige Verteilung ist zwar im Koalitionsvertrag geregelt, doch auch dieser ist keine Bedingung für das Bestehen der Scholz-Regierung. Mit einem Abzug des FDP-Personals gäbe es also die gegenwärtige Koalition und wohl auch das politische Fundament der Regierung nicht mehr – formal bliebe diese Regierung aber im Amt, ggf. als Minderheitsregierung.
Ob eine solche Minderheitsregierung dem Land die erhoffte politische Stabilisierung und Handlungsfähigkeit bringen würde, darf zwar bezweifelt werden, auszuschließen ist das Szenario aber nicht. Jedenfalls dürfte die CDU als wohl einzige mit der SPD koalitionsfähige Oppositionspartei nicht sonderlich viel Interesse an einer Stellung als Juniorpartner in einer Scholz-Regierung haben; für sie kämen wohl nur Neuwahlen in Frage. Sollte es also zu einem Bruch der Koalition kommen, dürfte es eher auf eine Beendigung der Regierung als solcher hinauslaufen. Dies könnte im Wesentlichen auf zwei verschiedenen Wegen geschehen, die entweder über Scholz selbst oder über das Parlament führen würden.
Vertrauensfrage oder Misstrauensvotum als Weg zur neuen Regierung
Der erste Weg wird zurzeit viel diskutiert und erscheint als die wahrscheinlichste Option, sollte es tatsächlich zum Ende der Regierung kommen. Dabei handelt es sich um die sogenannte Vertrauensfrage, normiert in Art. 68 GG. Danach könnte Scholz im Parlament den Antrag stellen, ihm das Vertrauen auszusprechen. Wenn sich dafür keine Mehrheit im Bundestag fände, könnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Vorschlag von Scholz binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Eine solche Vertrauensfrage kam in der Geschichte der Bundesrepublik bislang fünfmal vor, mit recht unterschiedlichem Erfolg. Dabei spielten verschiedenste taktische Erwägungen eine Rolle. Bis dato waren es die Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder, die dem Parlament die Vertrauensfrage stellten, letzterer gleich zweimal. 2005 verlor Schröder die zweite Vertrauensfrage im Bundestag, worauf Bundespräsident Horst Köhler am 21. Juli den Bundestag auflöste. Zugleich setzte Köhler eine Neuwahl für den 18. September an. Die Neuwahl muss gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG innerhalb von 60 Tagen nach der Auflösung des Bundestages stattfinden.
Doch auch wenn sich keine Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags (Art. 121 GG) fände, die für Olaf Scholz stimmte, würde daraus nicht automatisch die Auflösung des Bundestags folgen, wie der Wortlaut des Art. 68 GG ("kann", "Vorschlag") zeigt. Eine Neuwahl kann zudem durch die Wahl eines anderen Kanzlers oder einer anderen Kanzlerin in der Zwischenzeit noch verhindert werden. Die Wahl eines anderen Regierungschefs ist in diesem Kontext ein Instrument, um die Handlungsfähigkeit des Bundestages bis zuletzt zu wahren und Neuwahlen zur ultima ratio zu machen.
Doch das Parlament kann auch von Beginn an eigeninitiativ tätig werden. Nach Art. 67 Abs. 1 GG steht ihm nämlich das Recht zu, ohne vorherige Vertrauensfrage mit einer absoluten Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger bzw. eine Nachfolgerin zu wählen und den Bundespräsidenten zu ersuchen, den aktuellen Bundeskanzler zu entlassen (sog. konstruktives Misstrauensvotum). Der Bundespräsident muss diesem Ersuchen nachkommen und die neu gewählte Person ernennen. Mit dem Ausscheiden des Amtsinhabers endet auch die Amtszeit der Ministerinnen und Minister seiner Regierung. In diesem Fall vollzöge sich ein Regierungswechsel also ohne Neuwahl des Parlaments und aufgrund der gegenwärtigen Mehrheiten.
Dieses Szenario hat sich bislang zweimal ereignet, wovon es nur einmal erfolgreich war. Interessanterweise traf es beide Male einen sozialdemokratischen Bundeskanzler, das Misstrauensvotum initiierte jeweils die oppositionelle Union. Während 1972 Herausforderer Rainer Barzel (CDU) in der Abstimmung gegen Amtsinhaber Willy Brandt (SPD) scheiterte, gewann zehn Jahre danach Helmut Kohl (CDU) die Abstimmung gegen Helmut Schmidt (SPD). Vorausgegangen war dem eine sozialliberale Koalition aus SPD und FDP, die gegen Ende ebenfalls zerrüttet war. Auch damals arbeitete ein FDP-Politiker – in diesem Fall Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff – ein Wirtschaftspapier aus, das von der SPD und Bundeskanzler Schmidt als "Scheidungspapier" aufgefasst wurde. Danach traten die vier FDP-Minister von ihren Ämtern zurück, um einer Entlassung zuvorzukommen. Schmidt führte dann noch eine Minderheitsregierung weiter, wurde aber schließlich durch das Misstrauensvotum und die Wahl seines Widersachers Kohl aus dem Amt geholt. Kurz danach ließ sich Kohl seine Regierung zusätzlich durch eine (gewonnene) Vertrauensfrage bestätigen.
Bei Neuwahlen muss es schnell gehen
All das zeigt, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes auf dem Weg zum Ende einer Regierung und zu Neuwahlen recht hohe Hürden aufgestellt haben. Weder kann sich der Bundestag selbst auflösen noch kann ein Bundeskanzler oder eine Bundespräsidentin dies tun, geschweige denn die Regierung entlassen. Dies hat viel mit den historischen Erfahrungen zu tun, die der Konzeption des Grundgesetzes zugrunde liegen. Die komplizierten Mechanismen sind eine unmittelbare Reaktion auf die politische Instabilität der Weimarer Republik, die schlussendlich der nationalsozialistischen Diktatur Adolf Hitlers den Weg bereitet hatte.
Würde nun tatsächlich der Bundestag aufgelöst und eine Neuwahl angesetzt, käme das politische Handeln mit einem Schlag zum Erliegen. Die Parteien würden umgehend in den Wahlkampfmodus umschalten, die Vorbereitungszeit für die Wahl wäre mit 60 Tagen kurz. Relevant wäre dies vor allem für den Bundeshaushalt 2025, der dann nicht mehr in diesem Jahr verabschiedet werden könnte. Dann träte die sogenannte vorläufige Haushaltsführung ein. Ab Januar dürften im Wesentlichen nur noch Ausgaben getätigt werden, für die eine gesetzliche Verpflichtung vorliegt. Dieses Verfahren ist allerdings erprobt, es wird immer nach Bundestagswahlen wirksam, weil der Haushaltsentwurf der alten Regierung verfällt und die neue Regierung regelmäßig erst im neuen Jahr ihren eigenen Etatentwurf vorlegt.