Ende Juli hat die ABA eine Stellungnahme veröffentlicht, die sich mit den berufsrechtlichen Implikationen beim Gebrauch von "Generative Artificial Intelligence Tools" durch Anwältinnen und Anwälte (abgekürzt "GenAI") befasst. Diese Formal Opinions sind unmittelbar nur für den US-Markt relevant, aber wenn man sich ansieht, womit die ABA sich befasst, stellt man fest, dass trotz aller Unterschiede der Rechtssysteme die zu behandelnden Fragen sehr ähnlich sind. Und dass schon bald aus der Frage nach den Pflichten bei der KI-Nutzung die Frage nach der Pflicht zur KI-Nutzung werden könnte.
Die ABA ist die größte freiwillige Berufsorganisation für Juristinnen und Juristen in den Vereinigten Staaten. Sie wurde 1878 gegründet und zählt heute etwa 400.000 Mitglieder. Die ABA spielt eine wichtige Rolle bei der Auslegung und Entwicklung berufsrechtlicher und -ethischer Standards für Anwälte in den USA.
Sie verantwortet etwa die sogenannten Model Rules on Professional Conduct, bei denen es sich um berufsrechtliche Musterregeln handelt, die ihrerseits zwar nicht verbindlich sind, aber den US-Bundesstaaten als Vorlage für die Entwicklung ihrer eigenen, rechtsverbindlichen Regeln für Anwälte dienen.
Formal Opinions der ABA
Für das Berufsrecht ist das ABA Standing Committee on Ethics and Professional Responsibility zuständig, das zu diesem Zweck "Formal Opinions" veröffentlicht.
Diese Opinions interpretieren die Model Rules of Professional Conduct und geben Leitlinien für richtiges anwaltliches Verhalten in komplexen oder neuartigen Situationen. Auch sie sind nicht rechtsverbindlich, gelten aber als maßgebliche Auslegungen der Model Rules und werden von Justizbehörden und Anwaltskammern oft als Orientierung herangezogen.
Die Formal Opinions beschäftigen sich auch mit ganz konkreten, eher kleinteiligen berufsrechtlichen Fragen. Die Vorgängerin der jetzt veröffentlichten, die Formal Opinion Nr. 511 etwa, befasste sich mit den berufsrechtlichen Fragen, die beim Erfahrungsaustausch oder gegenseitiger Unterstützung in E-Mail-Gruppen mit anderen Anwälten auftauchen können. Opinion 510 behandelte eingehend, wie weit ein Anwalt in Mandatsanbahnungsgesprächen gehen darf, ohne sich selbst oder seine Sozietät wegen Interessenkonflikten einem Tätigkeitsverbot auszusetzen, auch ohne formelle Mandatierung.
Formal Opinion 512 – GenAI und Berufsrecht
Die Opinion 512 hingegen nimmt sich nun eines "bigger picture" an. Und sie hatte Vorgänger: Die Bar Associations in Florida und Kalifornien waren nach einem Reuters-Bericht im Februar 2024 die ersten Anwaltskammern, die solche Richtlinien für Anwälte und Anwältinnen herausgegeben hatten. Anlass waren unter anderem Fälle, in denen Anwälte vor Gericht Dokumente verwendet hatten, die mit GenAI erstellt worden waren und Hinweise auf Gerichtsentscheidungen enthielten, die es nicht gab.
Aus deutscher Sicht ist die Formal Opinion 512 einerseits bemerkenswert, weil die ABA sich überhaupt mit den Themen der GenAI befasst. Seit diese Software im November 2022 veröffentlicht wurde und frei verfügbar ist, kann man wohl davon ausgehen, dass viele Anwälte davon bereits Gebrauch gemacht haben.
Hinzu kommt, dass viele der herkömmlichen Kanzleisoftwareanbieter inzwischen GenAI in ihre Programme einbauen. Die Anwaltschaft befindet sich da vielleicht im berufsrechtlichen Blindflug – keine neue Erfahrung, denn bis heute ist auch nicht verbindlich geklärt, ob etwa die Verwendung von Office-365 zulässig ist oder nicht.
Die BRAK wurde im Februar 2024 nach Veröffentlichung der Richtlinien in Florida und Kalifornien damit zitiert, sie dürfe selbst nicht regulieren und auch nicht in den Markt und den Wettbewerb eingreifen. Wichtig sei ihr aber der verantwortungsvolle Umgang mit KI. Stimmt natürlich alles, hilft aber nicht weiter.
Anwaltspflichten bei der GenAI-Nutzung
Die Haltung der ABA zu GenAI ist positiv – für sie ist GenAI letztlich nur ein weiteres Werkzeug für die anwaltliche Praxis. Dass es eine Reihe berufsrechtlicher Fragen gibt (die sämtlich alte Bekannte sind), bedeutet für die ABA nicht, dass solche Software nicht verwendet werden sollte, im Gegenteil: Aus ihrer Sicht dient Software generell der Steigerung von Qualität und Effizienz anwaltlicher Beratungsdienstleistungen.
Die Opinion verlangt von Anwälten die Beachtung verschiedener Pflichten:
Kompetenz
Anwälte und Anwältinnen müssen die Fähigkeiten und Grenzen der eingesetzten KI-Tools verstehen. Sie müssen keine Software-Experten sein oder werden, aber verstehen, wie die Ergebnisse zustandekommen. Keinesfalls dürfen sie den Ergebnissen ohne weitere Kontrolle vertrauen. Eine ständige Weiterbildung sei aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung unerlässlich.
Vertraulichkeit
Bei der Eingabe von mandatsbezogenen Informationen in KI-Tools muss die Anwaltschaft besondere Vorsicht walten lassen. Anwälte müssten das Risiko der Offenlegung von Mandantendaten bewerten und sicherstellen, dass geeignete Schutzmaßnahmen vorhanden sind. Mandanten und Mandantinnen müssen über die Nutzung von KI informiert werden und ihre Zustimmung geben, wenn ihre Daten in KI-Systeme eingegeben werden.
Kommunikation und Transparenz
Anwälte sollten ihre Mandantinnen und Mandanten in bestimmten Situationen über den Einsatz von KI-Tools informieren, insbesondere wenn dies für wichtige Entscheidungen im Mandat relevant ist. Aus Sicht der Opinion ist also Kommunikation in zweierlei Hinsicht wichtig: Einmal, was die Verwendung von Daten angeht, andererseits, was das Vertrauen in die Software angeht. Das erfordert natürlich, dass ein Anwalt das überhaupt erklären kann – siehe dazu das Thema Kompetenz.
Wahrheits- und Sorgfaltspflicht (Candor and Meritorious Claims)
Anwälte müssen sicherstellen, dass durch KI generierte Informationen korrekt sind und keine falschen Angaben gegenüber Gerichten gemacht werden. Jegliche Nutzung von KI-Tools in Gerichtsverfahren muss sorgfältig überwacht und überprüft werden.
Angesichts der Fälle, in denen Anwälte ungeprüft unwahre und halluzinierte Schriftsätze und Dokumente bei Gericht eingereicht hatten, scheinen einige Gerichte zu verlangen, dass Anwältinnen und Anwälte auf Verlangen offenlegen, ob sie beim Verfertigen ihrer Eingaben mit GenAI gearbeitet haben. Die Opinion verhält sich da sehr diplomatisch und empfiehlt, sauber zu arbeiten und sich im Übrigen bei Gerichten nach deren Regeln zu erkundigen.
Aufsichtspflichten
Kanzleien müssen klare Richtlinien für den KI-Einsatz einführen, ihre Mitarbeitenden entsprechend schulen, beaufsichtigen und sicherstellen, dass sich alle Sozietätsmitarbeitenden an diese Regeln halten.
Honorare
Der Einsatz von KI-Tools kann Auswirkungen auf die Angemessenheit von Gebühren haben. Anwälte und Anwältinnen dürfen nicht für Zeit abrechnen, die sie zum Erlernen der KI-Technologie aufwenden. Honorare für die Nutzung von KI-Tools müssen angemessen und transparent sein.
Abrechnen dürfen Anwältinnen und Anwälte nur die tatsächlich aufgewendete Zeit und die direkten Kosten der KI-Nutzung. Daher enpfiehlt die ABA unbedingt Honorarvereinbarungen, in denen alle diese Fragen adressiert werden.
Noch kein Marktstandard ersichtlich
Das alles bildet erst einmal den Rahmen. Viele Detailfragen müssen vertieft werden, für manche Dinge gibt es noch keinen Markstandard – was etwa die Abrechnung betrifft. Auch Mustervereinbarungen zum Thema Datenschutz und Vertraulichkeit fehlen noch. Aber das wird sich finden.
Für die deutsche Anwaltschaft zeigt sich, was auf sie zukommen könnte. Je mehr diese Software verbreitet wird, desto wichtiger werden Guidelines für ihren Gebrauch. Die in der Opinion behandelten Fragen sind auch aus deutscher Sicht nicht ungewöhnlich, die meisten Empfehlungen der ABA kann man auch hierzulande beherzigen.
Es empfiehlt sich, Richtlinien rechtzeitig und proaktiv zu erstellen. Mit Blick auf § 31 BORA kommen Anwaltssozietäten nicht um die Erstellung eigener Richtlinien herum, weil die Missachtung einerseits aufsichtsrechtlich sanktioniert werden und andererseits in Haftungsprozessen zu bösen Überraschungen führen kann.
Anwaltspflicht zur GenAI-Nutzung?
Die interessante Frage zum Schluss: Wenn es solche Software gibt, diese immer besser wird und wenn man sie berufsrechtlich unfallfrei einsetzen kann – gehört es dann irgendwann zur gewissenhaften Berufsausübung, Software einzusetzen, wird es eine berufsrechtliche Pflicht?
Die Opinion diskutiert diese Frage auch. Sie tut das vor dem Hintergrund des T. J. Hooper-Falls aus dem Jahr 1932, in dem ein Unternehmer zum Schadensersatz verurteilt wurde, der längst verfügbare Technik nicht eingesetzt hatte. Die ABA schließt nicht aus, dass neue Technologien eine deutlich höhere Qualität liefern könnten als die derzeitigen GenAI-Tools und so Anwälte in die Lage versetzen könnten, ihre Arbeit schneller und wirtschaftlicher zu erledigen, so dass sie mehr und mehr zum Markstandard werden. Die ABA zitiert dazu aus einer ihrer früheren Opinions: "Ein Anwalt hätte Schwierigkeiten, im heutigen Umfeld kompetente juristische Dienstleistungen zu erbringen, wenn er nicht wüsste, wie man E-Mails nutzt oder ein elektronisches Dokument erstellt." Deutsche Anwälte würden sofort zustimmen, denn ohne beA kommt ein Anwalt in erhebliche Schwierigkeiten (auch wenn beA und GenAI kaum in einen Satz passen).
Aber: Gilt das auch für andere Hilfsmittel, etwa Datenbankrecherchen? Textautomatisierungs-Tools? Software zur Analyse großer Textmengen? Die ABA hält es für möglich, dass Anwälte irgendwann innovative Software einsetzen müssen, um bestimmte Aufgaben für ihre Mandanten noch kompetent erledigen zu können.
Unabhängig davon sollten sich Anwälte nach Meinung der ABA über die für ihre Arbeit relevanten GenAI-Tools informieren, damit sie im Rahmen ihres beruflichen Ermessens eine fundierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie diese Tools nutzen oder ihre Arbeit mit anderen Mitteln erledigen. Das gilt ohne Abstriche auch für die deutsche Anwaltschaft.
Der Autor Markus Hartung ist Rechtsanwalt und Mediator in Berlin, Senior Fellow des Bucerius Center on the Legal Profession, Mitglied des Berufsrechtsausschusses des DAV und Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen.