Anwalt beruft sich auf Verhandlungsunfähigkeit: Zulässige Gutachtensanordnung

Beruft sich ein Anwalt über Jahre hinweg in gegen ihn geführten Verfahren auf seine Verhandlungsunfähigkeit, darf die Kammer Zweifel anmelden, ob die Gesundheit noch für den Anwaltsberuf ausreicht. Laut AGH Nordrhein-Westfalen durfte die Beibringung eines Gutachtens angeordnet werden.

Ein Rechtsanwalt hatte 2014 einen Unfall, bei dem er eine schwere Gehirnerschütterung erlitt. Seitdem machte er – auf Basis jeweils erneuerter Atteste – in mehreren (miteinander verbundenen) Strafverfahren geltend, dass er verhandlungsunfähig sei. Attestiert wurden ihm unter anderem eine verminderte Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Eine neuropsychologische Stellungnahme von 2019 fasste die Sachlage so zusammen: "Im Ergebnis mache die Stresssituation einer Gerichtsverhandlung das Auftreten der Defizite wahrscheinlich, sodass zu dem derzeitigen Zeitpunkt Gesundheitsstörungen vorlägen, durch deren Auswirkungen er nicht jederzeit den Grad der geistigen Freiheit und Klarheit besäße, anderen das verständlich zu machen, was er sagen wolle, und zu verstehen, was andere sagten."

Zuletzt legte er im Februar 2022 eine Bescheinigung vor, wonach er bis voraussichtlich 30.06.2022 nicht verhandeln könne. Daraufhin gab ihm seine Kammer auf, binnen zwei Monaten nach Bestandskraft ein ärztliches Gutachten beizubringen, das ans Licht bringen sollte, ob er nach § 14 Abs. 2 Nr. 3 BRAO (Widerruf der Zulassung aus gesundheitlichen Gründen) nicht nur vorübergehend berufsunfähig sei. Dagegen wehrte sich der Jurist vor Gericht. Allerdings bestätigte der AGH Nordrhein-Westfalen die Anordnung der Rechtsanwaltskammer (Urteil vom 17.11.2023 – 1 AGH 7/23).

Verdacht der Berufsunfähigkeit zum Teil selbst begründet

Bei dem Anwalt lägen, so die Richterinnen und Richter, Umstände vor, die darauf hindeuteten, dass der gesundheitliche Zustand des Betroffenen sich zugleich und in schwerwiegender Weise auf seine Fähigkeit auswirke, die Belange seiner Mandanten noch sachgerecht und mit der gebotenen Sorgfalt wahrzunehmen. So habe er selbst über Jahre hinweg seine durchgängig bestehende Verhandlungsunfähigkeit behauptet und durch die im Bescheid der Kammer im Einzelnen aufgeführten ärztlichen Bescheinigungen und Gutachten zu belegen versucht. Schon die sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne von etwa einer halben Stunde belege den Verdacht seiner Berufsunfähigkeit. 

Soweit der Anwalt argumentiere, es handele sich um eine "Konzentrationsschwäche", die mit altersbedingtem Leistungsabbau vergleichbar sei und bei vielen älteren Kollegen eintrete, spreche dies nicht gegen die Anordnung einer Untersuchung. Den Umfang und die Auswirkungen seiner Beeinträchtigungen müssten durch das Gutachten geklärt werden.

Der Umstand, dass der Anwalt sich im Wesentlichen auf die "Mandantenpflege" beschränke, während andere Kollegen vor allem die schwierigen Fälle übernähmen, stärkt laut AGH zudem den Verdacht der bestehenden Berufsunfähigkeit. Denn die eigenverantwortliche inhaltliche Bearbeitung gerade auch komplizierter Fälle stelle den Kernbereich der Berufsausübung dar.

AGH Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.11.2023 - 1 AGH 7/23

Redaktion beck-aktuell, ns, 12. Januar 2024.