"Handlungsfähig" ist ein Wort, das in diesen Tagen oft im Thüringer Landtag zu hören ist. Und zwar deshalb, weil gleich mehrere Gremien in Erfurt seit dem Antritt der neuen Landesregierung im September eigentlich nicht mehr handlungsfähig sind. Der Versuch, die Richter- und Staatsanwaltswahlausschüsse zu besetzen, ist am Freitag erneut gescheitert.
Seit Monaten kann Thüringen keine neuen Richter und Staatsanwältinnen auf Lebenszeit ernennen, weil sich die AfD weigert, die Kandidatinnen und Kandidaten der regierenden Brombeer-Koalition sowie der Linken in die zuständigen Ausschüsse zu wählen. Die Wahl in den Richterwahlausschuss braucht im Landtag eine Zweidrittelmehrheit, die gegen die Sperrminorität der Partei, die bei der Landtagswahl stärkste Kraft wurde, nicht zu erringen ist. Dabei tut die AfD-Fraktion nicht einmal so, als gäbe es für ihre Blockade der Justizwahlausschüsse sachliche Gründe. Die Ausschüsse sind Verhandlungsmasse für drei Posten, die die Fraktion rund um Björn Höcke für sich beansprucht, zwei davon in der Kontrolle des Verfassungsschutzes. Am Freitag hat die Landesregierung gemeinsam mit der Linken zwei Gesetze geändert, um die Kontrolle des Verfassungsschutzes wieder möglich zu machen, ohne die AfD beteiligen zu müssen. Der Richterwahlausschuss aber ist bestenfalls vorläufig weiter handlungsfähig – und auch das nur laut dem Gutachten eines Jenaer Juraprofessors.
Richterwahlausschuss in der Schwebe
Justizpersonal ist bitter nötig in Thüringen, eine große Pensionierungswelle in der Justiz steht an. Viele Richterinnen und Staatsanwälte, die nach der Wende ihre Jobs im grünen Herzen Deutschlands aufnahmen, gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Schon jetzt sind laut dem MDR in Thüringen etwa 30 Stellen für Richterinnen und Staatsanwälte unbesetzt.
CDU, BSW und SPD, die seit September in Thüringen die Regierung stellen, haben aus ihrer Sicht alles getan, damit die ohnehin schwierige Rekrutierung des juristischen Nachwuchses für die Justiz im Land überhaupt möglich ist: Sie haben zwei AfD-Abgeordnete in den Richterwahlausschuss gewählt. Doch bisher sind die beiden AfD-Abgeordneten die einzigen Mitglieder im neuen Richterwahlausschuss, weil die AfD-Fraktion die weiteren vorgeschlagenen Mitglieder nicht wählt.
Die Gremien bestehen grundsätzlich aus Abgeordneten und Richterinnen oder Staatsanwälten und sind gemeinsam mit dem Justizministerium dafür zuständig, die Richterinnen und Staatsanwälte in Thüringen auf Lebenszeit zu ernennen. Angestellt werden die jungen Juristinnen und Juristen in Thüringen vom Justizministerium, die Lebenszeiternennung nach der Probezeit geht nach Art. 89 Abs. 2 ThürVerf nur gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss.
AfD will Kontrolle über Verfassungsschutz erzwingen
Der AfD geht es ihrerseits gar nicht um die Justiz: Mit ihrer Blockade will sie erzwingen, dass sie den Vizepräsidenten im Landtag stellt, zudem beansprucht sie zwei Sitze in der Parlamentarischen Kontrollkommission und einen in der G-10-Kommission. Das Parlamentarische Kontrollgremium überwacht den Verfassungsschutz im Land, die G-10-Kommission entscheidet darüber, was der Geheimdienst in Sachen Überwachung darf, ob er zum Beispiel Telefone abhören oder Chats mitlesen kann.
Am Donnerstag scheiterte der AfD-Kandidat für den Landtagsvizeposten, Jörg Prophet, erneut. Allerdings wären die anderen Parteien dem Vernehmen nach bereit, einen AfD-Landtagsvize zu akzeptieren, wenn für den Posten eine auch aus ihrer Sicht geeignete Person vorgeschlagen würde. Der AfD Sitze in den Kontrollkommissionen für den Verfassungsschutz in Thüringen zu geben, verweigern sie hingegen.
Neben den Regierungsfraktionen ist auch die oppositionelle Linke in Thüringen nicht bereit, ausgerechnet in diese Kontrollgremien Parteimitglieder des AfD-Landesverbands zu entsenden, der selbst vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und beobachtet wird.
Alte Ausschüsse bleiben einfach im Amt
Zurück zur Handlungsfähigkeit: Eine G-10-Kommission gibt es deshalb aktuell nicht, derzeit kann in Thüringen niemand eingriffsintensive Überwachungsmaßnahmen gegen potenzielle Verfassungsfeindinnen und -feinde genehmigen. Das Thüringer Gesetz zur Ausführung des Artikel-10-Gesetzes schreibt in § 2 Abs. 2 S. 2 eindeutig vor, dass die Amtszeit der Mitglieder spätestens drei Monate nach Ablauf der Wahlperiode endet, hier also Ende Dezember.
Die Parlamentarische Kontrollkommission, für die es kein gesetzliches Ablaufdatum gibt, ist dagegen weiter im Amt. Die Kommission ist schlicht die aus der letzten Legislaturperiode – oder, wenn man ehrlich ist, aus der vorletzten, denn schon seit Jahren gab es Blockaden. Zeitweise waren alle vier Mitglieder der Kontrollkommission schon in der vergangenen Legislaturperiode nicht einmal mehr Abgeordnete im Thüringer Landtag.
"Die Legitimation nutzt sich ab", kommentiert der CDU-Fraktionsvorsitzende Andreas Brühl die Situation fast lapidar gegenüber beck-aktuell. In Thüringen, wo die AfD seit Jahren stark ist, ist die fehlende demokratietheoretische Anbindung längst den Realitäten geschuldeter Alltag.
Rechtsgutachten: Die alten Justizwahlausschüsse dürfen weiter machen
Auch der Richterwahlausschuss ist weiterhin im Amt, besetzt ebenfalls mit den Mitgliedern, die in der vergangenen Legislaturperiode gewählt wurden. Das soll nun auch so bleiben: Am Mittwoch veröffentlichte das Justizministerium Thüringen das Ergebnis eines Gutachtens des Rechtswissenschaftlers Michael Brenner von der Uni Jena, das beide Justizwahlausschüsse für voll handlungsfähig erklärt, bis sie vollständig neu gewählt sind.
Brenner beruft sich auf §§ 52 Abs. 2 S. 2, 65 Abs. 2 S. 1 des ThürRiStaG. Beide Vorschriften regeln, dass der Richter- wie auch der Staatsanwaltswahlausschuss auch nach der Wahlperiode des Landtags im Amt bleiben, bis sie vollständig neu besetzt sind. Laut Brenner soll es im Ergebnis reichen, wenn mindestens die Hälfte der in der vergangenen Wahlperiode gewählten Mitglieder anwesend ist, sofern diese auch im neuen Landtag ein Mandat haben.
Aktuell gehören noch fünf Abgeordnete aus der letzten Legislaturperiode den Ausschüssen an, hinzu kommen jeweils fünf Justizangehörige – das reicht, wenn es nach dem Gutachten geht, dem Justizministerin Beate Meißner (CDU) sich am Mittwoch ausdrücklich anschloss.
Keine Änderungen für den Richterwahlausschuss ohne die AfD
Das Parlamentarische Kontrollgremium und die G-10-Kommission haben die Regierungsfraktionen mit der Linken am Freitag nun so geändert, dass es künftig für die Wahl in die Kommissionen nur noch eine einfache Mehrheit braucht, die man – Stand heute - auch ohne die AfD hinbekommt. Die AfD kritisierte die Änderungspläne scharf, der Gesetzentwurf sei "repressiv und autoritär", sagte der Abgeordnete Stefan Möller laut MDR.
Die Mehrheiten für die Zusammensetzung des Wahlausschusses für die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte könnte man wohl ebenfalls einfachgesetzlich verändern. Dessen Zusammensetzung ist "nur" im ThürRiStaG, also nicht in der Landesverfassung geregelt, so dass es für eine Änderung keine Zwei-Drittel-Mehrheit bräuchte.
Beim Richterwahlausschuss aber sind die erforderlichen Mehrheiten für die Besetzungen der Ausschüsse in der ThürVerf geregelt, die man eben nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit ändern kann.
Funktionsfähigkeit der Justiz bleibt Erpressungspotenzial
So ist ein Auftragsgutachten, das bescheinigt, dass ein alter Ausschuss weiterarbeiten dürfe, alles, was die demokratischen Parteien gerade zur Hand haben, um die Justiz funktionsfähig zu halten. Der Rechtstaat bleibe weiterhin handlungsfähig, sagte Justizministerin Meißner am Mittwoch nach der Veröffentlichung des Brenner-Gutachtens, einer möglichen Klage der AfD gegen die Weiterarbeit der Gremien sehe sie gelassen entgegen.
Eine Klage der AfD wäre wohl die einzige Möglichkeit, die verfahrene Situation rund um die Justizwahlausschüsse vor die Gerichte zu bringen. Noch ist unklar, ob die Fraktion das erwägt oder eher darauf setzt, dass sich die abnehmende demokratische Legitimation des alten Richterwahlausschusses – und damit die Funktionsfähigkeit der Justiz in Thüringen - auch weiterhin als Erpressungspotenzial eignet.
Die demokratischen Parteien sehen ihrerseits – wie auch versierte Juristinnen und Juristen, die mit den Bedingungen in Thüringen vertraut sind - nach Informationen von beck-aktuell keinen juristischen Hebel, um die Blockadehaltung der AfD gegen eine funktionsfähige Justiz aufzulösen. Handlungsfähigkeit, nur darum geht es in Thüringen im Landtag gerade.