beck-aktuell: Herr Weihrauch, die Abrissarbeiten an der eingestürzten Carolabrücke in Dresden sind inzwischen so weit abgeschlossen. Der Abriss und die Räumung gingen enorm schnell vonstatten, da man befürchtete, Trümmerteile könnten vom drohenden Hochwasser mitgerissen und so zur Gefahr werden. Doch eigentlich können die zuständigen Behörden nicht einfach bei einem Unternehmen anrufen und sagen: "Räumt mal bitte schnell die Brücke weg, alles Weitere regeln wir dann später." Schließlich steht vor fast jedem öffentlichen Auftrag ein förmliches Verfahren. Welche Schritte müssen da erst einmal durchlaufen werden?
Oliver Weihrauch: Zunächst muss sich der öffentliche Auftraggeber überlegen, ob er den Auftrag ausschreiben muss. Das muss er immer dann, wenn er einen entgeltlichen Auftrag an ein Unternehmen erteilen möchte. Und mit Sicherheit verdient das Unternehmen, das hier die Brücke zerteilt und den Schutt beiseite geräumt hat, Geld damit. Damit haben wir einen vergabepflichtigen Vorgang. Und da muss man sich überlegen: Wie komme ich möglichst schnell und einfach an die Leistungen, die ich ja so dringend benötige?
Das Vergaberecht hat ein Regelverfahren, ein umständliches Verfahren, in dem Fristen gelten. Die Angebotsfrist muss immer angemessen sein. Regelfristen liegen bei 30 Tagen, um die Angebote einzuholen. Die kann man auf 15 Tage verkürzen, aber auch das wäre hier noch viel zu viel gewesen.
beck-aktuell: Schließlich ging es hier um Tage, vielleicht sogar um Stunden.
Weihrauch: Dann muss der öffentliche Auftraggeber überlegen: Kann ich nicht in diesem Notfall an ein Unternehmen herantreten, das Gewehr bei Fuß steht und die Leistung sofort erbringen kann? Das nennt man dann ein sogenanntes Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb, weil andere Firmen gar nicht angefragt werden.
beck-aktuell: Das ist aber nur in Ausnahmefällen möglich?
Weihrauch: Ja, das Vergaberecht hat da mehrere Stufen der Dringlichkeit. Wenn eine Leistung dringend ist, also die Fristen für ein normales Vergabeverfahren nicht eingehalten werden können, dann kann man ein verkürztes Verfahren wählen. Aber auch hier gibt es noch zwei Stufen: Einen Teilnahmewettbewerb, in dem ich geeignete Unternehmen auswählen muss und dann die Aufforderung zur Abgabe von Angeboten, im Rahmen derer diese Unternehmen ein Angebot abgeben dürfen. Zudem gibt es in Sachsen selbst bei nationalen Ausschreibungen Informations- und Wartefristen vor der Zuschlagserteilung. Sie sehen, auch das dauert lange.
"Haben noch nicht viele Entscheidungen dazu, was besondere Dringlichkeit ist"
beck-aktuell: Wie geht man dann – wie hier in Dresden – in einem Fall mit höchster Dringlichkeit vor?
Weihrauch: Im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb kann der Auftraggeber sogar an nur ein Unternehmen herantreten und sagen: Ich brauche dich. Das setzt aber nicht nur Dringlichkeit voraus, sondern eine besondere Dringlichkeit. Und wir haben noch nicht viele Entscheidungen, die genau definieren, was eine besondere Dringlichkeit in Abgrenzung zur einfachen Dringlichkeit bedeutet.
Hier in Dresden hatten wir eine Abstufung: Die Brückentrümmer mussten beiseite geräumt werden, um den Verkehrsfluss wieder ermöglichen zu können, sowohl als Wasserstraße als auch über Land. Das war schon dringend. Dann kam aber das drohende Hochwasser hinzu und es gab Horrorszenarien in den Wettervorhersagen, die sich zum Glück für Dresden nicht bewahrheitet haben. Diese Kombination von Dringlichkeiten aufgrund des Einsturzes der Brücke, der Wiederherstellung der Verkehrssituation und des drohenden Hochwassers rechtfertigte es, hier eine besondere Dringlichkeit anzunehmen. Diese besondere Dringlichkeit ist übrigens in jedem Einzelfall zu prüfen und zu begründen. Wenn der Abbruch der Trümmer besonders dringlich ist, bedeutet dies nicht automatisch, dass das auch für den Wiederaufbau gilt.
beck-aktuell: Sie sagen, es gebe für die Stufe der besonderen Dringlichkeit nicht viele Präzedenzfälle. Haben Sie überhaupt schon einmal erlebt, dass ein Vergabeverfahren wegen besonderer Dringlichkeit beschleunigt wurde?
Weihrauch: Ein Beispiel dafür wäre sicherlich die Masken-Beschaffung in Zeiten von Corona, da hätte man das gut begründen können. Der Bund ist damals aber einen anderen Weg gegangen und hat gar keine Vergabeverfahren durchgeführt, sondern einfach alles eingekauft, was auf dem Markt verfügbar war, ein sogenanntes Open-House-Verfahren. Dadurch steht man nun vor erheblichen Problemen mit der Bezahlung dieser Leistungen und den Überkapazitäten, die man beschafft hat.
Ein wichtiger Punkt ist auch, dass ein öffentlicher Auftraggeber sich nicht auf das Vorliegen von Dringlichkeit oder besonderer Dringlichkeit berufen darf, wenn er diese Situation selbst verursacht hat.
"Vielleicht müsste die öffentliche Hand vergaberechtswidrig handeln"
beck-aktuell: Wäre das hier im Fall der Carolabrücke denkbar gewesen?
Weihrauch: Wenn man dem öffentlichen Auftraggeber nachweisen könnte, dass er gewusst hat, dass die Brücke einsturzgefährdet war und dennoch nicht gehandelt hat, dann dürfte er sich auf die besondere Dringlichkeit nicht berufen.
beck-aktuell: Die Folgen wären potenziell drastisch, wie man sich im Fall Dresden vorstellen kann. Schließlich besteht immer noch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.
Weihrauch: Die Rechtsprechung entscheidet eben immer nur, was falsch gelaufen ist, sie sagt aber nie, wie man es hätte richtig machen müssen. Verschuldet die öffentliche Hand die Dringlichkeit selbst, führt das wohl dazu, dass sie, um ihrer Verpflichtung nachzukommen, vergaberechtswidrig handeln und sich dann schadensersatzpflichtig machen muss.
Vor einiger Zeit hat das OLG Düsseldorf die Frage aufgeworfen, ob nicht bei Leistungen der Daseinsvorsorge wie Gesundheit, Strom oder Wasser – vielleicht auch Verkehr – der öffentliche Auftraggeber auch bei selbstverschuldeter Dringlichkeit die Möglichkeit haben muss, handlungsfähig zu bleiben. Das Gericht hat diese Rechtsfrage dem EuGH vorgelegt. Leider ist es nie zu einer Entscheidung gekommen, weil der Nachprüfungsantrag zurückgezogen wurde und das Verfahren damit vor einer Entscheidung des EuGH endete. Somit ist es noch ein ungeklärtes Rechtsproblem, wie die öffentliche Hand in so einem Fall handlungsfähig bleibt.
"Es geht auch um die Reputation"
beck-aktuell: Was würden Sie einer Behörde als Anwalt in einer solchen Situation raten?
Weihrauch: Ich würde eine Risikoabwägung anstellen: Welcher Schaden ist größer? Es geht ja nicht nur um den finanziellen Schaden, sondern auch um die Reputation der öffentlichen Hand, wenn sie sich hinter dem Vergaberecht versteckt. Und allein die Tatsache, dass der öffentliche Auftraggeber diese Dringlichkeit selbst verschuldet hat, führt ja schon zu Schadensersatzansprüchen. Da muss man eben schauen, welche Schadensersatzansprüche größer sind. Irgendeinen Tod muss der öffentliche Auftraggeber in diesem Fall sterben.
beck-aktuell: Am Mittwoch war zu lesen, dass Strafanzeigen wegen des Einsturzes bei der Dresdener Staatsanwaltschaft eigegangen seien. Ist denn im Fall der Carolabrücke ersichtlich, dass der zuständige Träger nicht rechtzeitig gehandelt hätte?
Weihrauch: Ich kenne dazu nur die Presseberichte und weiß, dass die Brücke einen Sanierungsstau hatte, den man aber auch angegangen ist. Dass der nun eingestürzte Teil so stark gefährdet war, kam nach allem, was ich gelesen habe, für alle Beteiligten überraschend. Vielleicht hat es eine Fehleinschätzung gegeben, aber womöglich war diese auch vertretbar.
beck-aktuell: Herr Weihrauch, vielen Dank für Ihre Zeit!
Oliver Weihrauch ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei der Kanzei Caspers Mock in Koblenz. Er ist zudem Host des Vergaberechts-Podcasts "BeschaffungsDialog".
Das Interview führte Maximilian Amos.