Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 13/2017 vom 7.7.2017
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Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte Krankenkasse den Kläger zurecht aufgefordert hat, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 51 Abs. 1 SGB V zu stellen. Der 1973 geborene Kläger war zuletzt seit 01.04.2008 versicherungspflichtig beschäftigt als Altenpfleger. Aufgrund einer seit dem 07.03.2014 bestehenden Arbeitsunfähigkeit wegen Neurasthenie sowie rezidivierenden depressiven Störungen zahlte die Beklagte nach Ablauf der Entgeltfortzahlung ab dem 18.04.2014 Krankengeld. Anschließend bat die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK) um Stellungnahme zur Sicherung des Behandlungserfolgs. Im Gutachten vom 24.10.2014 wertete der MDK einen psychologischen Befundbericht sowie ein neurologisches Gutachten aus und kam zu dem Ergebnis, dass trotz psychotherapeutischer Behandlung eine wesentliche Besserung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht habe erreicht werden können und eine Besserung unter der bisher laufenden Behandlung auch nicht zu erwarten sei. Mit angefochtenem Bescheid vom 06.02.2015 forderte die Beklagte den Kläger auf, innerhalb von zehn Wochen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu beantragen. Nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers erheblich gefährdet oder gemindert. Ersatzweise könne auch ein Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung gestellt werden. Der Krankengeldanspruch entfalle, wenn der Antrag innerhalb der Zehn-Wochen-Frist nicht gestellt wird. Den Widerspruch dagegen begründete der Kläger damit, dass eine erhebliche Gefährdung seiner Erwerbsfähigkeit nicht vorliege. Diesen Widerspruch wies die Beklagte Kasse zurück. Im weiteren Klageverfahren hat das SG umfangreich Beweis erhoben und ist auf Basis der eingeholten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers erheblich gefährdet gewesen sei. Der Wunsch des Klägers, statt der häufig geringeren Rente höheres Krankengeld bis zum Ablauf der Bezugsdauer beziehen zu wollen oder die zusätzliche Anrechnung rentenrelevanter Zeiten aufgrund der Arbeitsunfähigkeit, reiche allein nicht aus, ein berechtigtes Interesse des Versicherten am Hinausschieben des Rentenbeginns zu begründen. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er auch die Ergebnisse der Gutachten, was die Frage der Besserungstendenz anlangt, kritisiert. Das der Entscheidung der Kasse zugrundeliegende Gutachten des MDK genüge den Vorgaben, die das BSG in der Entscheidung vom 07.08.1991 – 1/3 RK 26/90 – formuliert hat, nicht. Der Gutachter habe sich nicht zu den Leistungseinschränkungen des Klägers im Einzelnen geäußert. Es lasse sich nicht überprüfen, unter welchen medizinischen Gesichtspunkten hier eine erhebliche Gefährdung angenommen worden sei. Da der Kläger den Rentenantrag nicht gestellt hat, hat die Beklagte die Zahlung des Krankengelds ab dem 20.04.2015 eingestellt, auf Basis eines Widerspruchs aber vorläufig weiterbezahlt. Seit dem 01.06.2015 ist der Kläger wieder in seinem Beruf als Krankenpfleger bei einem neuen Arbeitgeber versicherungspflichtig beschäftigt.
Entscheidung
Das LSG gibt der Berufung des Klägers statt und hebt die angefochtenen Bescheide auf. Das SG durfte mittels Gerichtsbescheid entscheiden, unbeschadet der Tatsache, dass die Äußerungen in den verschiedenen Gutachten sich zum Teil unterscheiden. Zwar fehlt es zu dem angefochtenen Verwaltungsakt an der nach § 24 SGB X erforderlichen Anhörung. Diese ist auch im Widerspruchsverfahren nicht gem. § 41 Abs. 2 SGB X nachgeholt werden, auch nicht im Verfahren vor dem Gericht. Nach der Rechtsprechung des BSG setzt eine Nachholung der fehlenden oder fehlerhaften Anhörung während des Gerichtsverfahrens voraus, dass die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung einräumt und danach zu erkennen gibt, ob sie nach Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (z.B. BSG vom 20.12.2012 – B 10 LW 2/11 R). Dies setzt regelmäßig voraus, dass die Behörde dem Kläger in einem gesonderten „Anhörungsschreiben" alle erheblichen Tatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt.
Darüber hinaus ist der angefochtene Bescheid auch materiell rechtswidrig. Die der Entscheidung zugrundeliegende Äußerung des MDK erfüllt nicht die Voraussetzung eines „ärztlichen Gutachtens" gem. § 51 Abs. 1 SGB V. Dem MDK-Arzt lag zwar das ausführliche erst drei Monate alte Gutachten eines Neurologen vor, so dass nicht zwangsläufig im Oktober 2014 eine erneute ambulante Untersuchung des Klägers durchzuführen war, sondern auch nach Aktenlage Stellung genommen werden konnte. Der MDK-Arzt hat sich aber nur darauf beschränkt, das Ergebnis seiner Überlegungen mitzuteilen, nämlich dass er der Meinung sei, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers erheblich gefährdet sei. Dabei hat er nur mitgeteilt, dass der Kläger seit März 2014 wegen Depression arbeitsunfähig sei. Aus sich heraus ist das MDK-Gutachten nicht verständlich und schon gar nicht nachprüfbar. Auf der Basis eines solchen Gutachtens kann eine Krankenkasse, die die Entscheidung nach § 51 SGB V (und nicht der Arzt des MDK) zu treffen hat, keine den Anforderungen dieser Vorschrift genügende Entscheidung treffend.
Praxishinweise
1. Schlussendlich hat der Kläger vom 18.04.2014 bis zum 01.06.2015 Krankengeld bezogen. Die Höchstbezugsdauer von 18 Monaten wäre im August 2015, also knapp zweieinhalb Monate später abgelaufen gewesen. Hätte der Kläger zu diesem Zeitpunkt trotz fortbestehender Arbeitsunfähigkeit keinen Rentenanspruch gehabt, hätte er sich zuvor arbeitslos melden müssen mit der Folge, dass die Agentur für Arbeit nach § 145 SGB III ihrerseits zu prüfen gehabt hätte, ob ein Leistungsvermögen noch besteht oder nicht.
2. Das Urteil des LSG analysiert sehr sorgfältig und ausführlich Sinn und Zweck des § 51 SGB V. Es geht hier um den allgemeinen Grundsatz, wonach die Leistungen zur Teilhabe Vorrang haben vor Rentenleistungen. Es geht ferner um eine gesetzliche Risikozuweisung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne eines Vor- und Nachrangs, schlussendlich aber auch um die Höhe der Lohnersatzleistung. Auch unter diesem Aspekt ist das Interesse der Betroffenen an der Fortzahlung des Krankengelds (anstelle Rente wegen voller Erwerbsminderung) nachvollziehbar und von Relevanz. Damit korrespondiert die Verpflichtung der Kasse, bei der Prognose, was die Leistungsfähigkeit oder -unfähigkeit anlangt, besondere Sorgfalt walten zu lassen.
3. Auch diese Entscheidung zeigt, dass im Einzelfall die Rüge der fehlenden Anhörung gem. § 24 SGB X entscheidungserheblich sein kann. Die Ausführungen der Kasse, mit der sie die Klagabweisung begründet, ersetzen die bisher fehlende Anhörung nicht. Die Anhörung kann auch noch im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachgeholt werden (BSG vom 16.03.2017 – B10 LW 1/15R).