BGH: Ermittlung ausländischen Rechts durch den deutschen Tatrichter

ZPO § 293

1. Der Tatrichter hat das ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln (§ 293 ZPO). Dabei hat der deutsche Richter das ausländische Recht so anzuwenden, wie es der Richter des betreffenden Landes auslegt und anwendet. Wie der Tatrichter sich diese Kenntnis verschafft, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.

2. Im Allgemeinen werden die Grenzen der Ermessensausübung des Tatrichters durch die jeweiligen Umstände des Einzelfalles gezogen. An die Ermittlungspflicht werden umso höhere Anforderungen zu stellen sein, je komplexer oder je fremder im Vergleich zum eigenen das anzuwendende Recht ist. Von Einfluss auf das Ermittlungsermessen können auch Vortrag und sonstige Beiträge – etwa Privatgutachten – der Parteien sein. Tragen die Parteien eine bestimmte ausländische Rechtspraxis detailliert und kontrovers vor, wird der Richter regelmäßig umfassendere Ausführungen zur Rechtslage zu machen – gegebenenfalls sämtliche ihm zugänglichen Erkenntnismittel zu erschöpfen – haben, als wenn der Vortrag der Parteien zu dem Inhalt des ausländischen Rechts übereinstimmt oder sie zu dem Inhalt dieses Rechts nicht Stellung nehmen, obwohl sie dessen Anwendbarkeit kennen oder mit ihr rechnen. (Leitsätze des Bearbeiters)

BGH, Urteil vom 18.03.2020 - IV ZR 62/19, BeckRS 2020, 5998

Anmerkung von 
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 09/2020 vom 30.04.2020

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Sachverhalt

Die Beklagte, eine in Deutschland wohnhafte deutsche Staatsbürgerin, verursachte in Deutschland unter Alkoholeinfluss mit einem in Litauen zugelassenen Pkw einen Verkehrsunfall. Die Klägerin, eine in Litauen ansässige Haftpflichtversicherung, bei der nach einem Versicherungsvertrag mit der in Litauen wohnhaften Fahrzeughalterin der Pkw haftpflichtversichert ist, nimmt nach Regulierung des Schadens des Unfallgegners die Beklagte in Regress. Sie meint, die Beklagte sei gemäß des von ihr in Übersetzung vorgelegten Art. 22 I Nr. 1 des litauischen Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kfz-Halter verpflichtet, ihr die durch die Schadensregulierung verauslagten Beträge in voller Höhe zu ersetzen. Die Beklagte meint demgegenüber, litauisches Recht komme hier nicht zur Anwendung, weil sich der Verkehrsunfall in Deutschland zugetragen habe. Nach deutschem Recht sei die Leistungsfreiheit des Versicherers im Fall einer vorsätzlichen oder grob fahrlässig begangenen Obliegenheitsverletzung und somit auch der Rückgriff gegen den Versicherungsnehmer oder den Fahrer des versicherten Fahrzeugs auf einen Betrag in Höhe von 2.500,00 EUR beschränkt.

Das LG hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass litauisches Recht zwar auf den Versicherungsvertrag, nicht aber auf das Rechtsverhältnis zur Beklagten Anwendung fände, und nach deutschen Recht (§ 116 I 2, 3 VVG) kein Anspruch bestünde, weil nach dem Versicherungsantrag keine Leistungsfreiheit der Klägerin auch gegenüber der Beklagten anzunehmen sei (LG Berlin, BeckRS 2017, 128569). Auf die Berufung der Klägerin, mit dem diese ua geltend macht, das LG habe ein Gutachten zur Anwendbarkeit des litauischen Rechts und der Rechtslage nach litauischem Recht einholen müssen, hat das Berufungsgericht der Klage überwiegend stattgegeben (KG VersR 2019, 748 = BeckRS 2017, 155378). Es hat das litauische Recht für insgesamt anwendbar gehalten und gemeint, die Voraussetzungen des von ihm in einer eigenständigen, teilweise von der von der Klägerin vorgelegten abweichenden „sinngemäßen“ Übertragung in die deutsche Sprache zugrunde gelegten Art. 22 des litauischen Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kfz-Halter lägen unstreitig vor.

Entscheidung: Ermittlung des litauischen Rechts war ermessensfehlerhaft

Auf die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben, soweit zu ihrem Nachteil entschieden worden ist, und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts halte rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand. Allerdings habe das Berufungsgericht – wie im Einzelnen näher ausgeführt wird – iErg zutreffend angenommen, dass die Berechtigung des von der Klägerin erhobenen Anspruchs maßgeblich nach litauischem Recht zu beurteilen sei. Zu Recht beanstande die Revision jedoch, dass das Berufungsgericht das litauische Recht nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen (vgl. LSe) unzureichend ermittelt habe. Zwar könne revisionsrechtlich lediglich überprüft werden, ob der Tatrichter sein bei der Ermittlung bestehendes Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt, insbes. sich anbietende Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles hinreichend ausgeschöpft habe. Hier sei aber die Ermessensausübung rechtsfehlerhaft gewesen. Den Anforderungen des § 293 ZPO genüge schon nicht, dass das Berufungsgericht nur eine einzige Vorschrift des litauischen Rechts und diese nur ihrem Wortlaut in einer überdies eigenständigen und „sinngemäßen“ Übersetzung nach herangezogen habe. Es könne insofern offenbleiben, ob das Berufungsgericht in Anbetracht des Vortrags der Parteien darüber hinaus hätte prüfen müssen, ob nach litauischem Recht die in Art. 22 II des litauischen Gesetzes über die Pflichtversicherung für Kfz-Halter für den Kfz-Halter vorgesehenen oder anderweitige Regressbeschränkungen auch dem Fahrer zugutekommen können – sei es aufgrund der Auslegung dieser Vorschrift durch die litauischen Gerichte, sei es infolge weiterer, vom Berufungsgericht nicht ermittelter litauischer Rechtsvorschriften.

Praxishinweis

Ausländisches Recht ist vom Richter nicht wie deutsches Recht selbständig anzuwenden, sondern so, wie es tatsächlich gilt (mithin so, wie es in der entspr. ausländischen Rechtspraxis tatsächlich angewandt wird). § 293 ZPO sieht daher (nur) für ausländisches Recht ein besonderes Beweisverfahren zu dessen Ermittlung vor. Den für ausländisches Recht geltenden Rechtsgrundsätzen entsprechend kann sich diese Ermittlung nicht auf den Wortlaut einzelner Vorschriften beschränken, sondern muss die zur Entscheidung stehende Rechtsfrage insgesamt ausleuchten und unter Berücksichtigung ausländischer Rspr. und Rechtslehre klären, wie das einschlägige Recht tatsächlich praktiziert wird. Der Richter ist zu einer solchen Ermittlung unabhängig vom Parteivortrag verpflichtet (auch ausländisches Recht ist keine Tat-, sondern Rechtsfrage), wenn auch den Parteien freisteht, selbst hierzu vorzutragen und etwa Gutachten vorzulegen. Wie der Richter ermittelt, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen, das als solches (wie stets) nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt. Damit aber auch eine eingeschränkte Überprüfung überhaupt möglich ist, muss sich aus seiner Entscheidung jedenfalls ergeben, was insoweit unternommen wurde.

Redaktion beck-aktuell, 6. Mai 2020.