BGH: Absehen von der Vernehmung eines Zeugen

GG Art. 103 I; ZPO §§ 378, 380, 390, 531 II

Von der Vernehmung eines Zeugen darf nicht deshalb abgesehen werden, weil dieser außergerichtlich erklärt hat, sich an den unter Beweis gestellten Vorgang nicht zu erinnern. Eine solche Erklärung lässt es nämlich nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass die Beweiserhebung Sachdienliches ergeben kann. Die Erinnerung eines Zeugen kann im Rahmen seiner Vernehmung durch den Richter wiederkehren, insbesondere wenn der Zeuge sich selbst ausreichend vorbereitet (§378 ZPO) und ihm zur Auffrischung seines Gedächtnisses Unterlagen aus der Zeit des Vorgangs oder Lichtbilder vorgelegt werden. Es widerspräche den Grundgedanken der Regelungen über die Pflicht des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen (§§ 380, 390 ZPO), wenn ein Zeuge damit rechnen könnte, dass die schlichte Erklärung sich nicht zu erinnern, dazu führt, dass das Gericht auf seine Ladung verzichtet. (Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschluss vom 21.11.2019 - V ZR 101/19, BeckRS 2019, 39369

Anmerkung von 
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 07/2020 vom 03.04.2020

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Sachverhalt 

In einem Rechtsstreit kommt es im Jahr 2019 darauf an, was ein Sachverständiger einem WEG-Verwalter im Jahr 2000 gesagt hatte. Den für das Gespräch von Kläger K benannten Sachverständigen S vernimmt das AG nicht. Das LG nimmt daran keinen Anstoß. Denn S habe im Jahr 2014 außerprozessual in einer E-Mail erklärt, keine Angaben mehr zum Inhalt seines Gutachtens machen zu können. Wenn K nunmehr darlege, S habe inzwischen in einem Telefonat mitgeteilt, er habe mit der E-Mail nur zum Ausdruck bringen wollen, sich nicht mehr an alle Details zu erinnern, sehr wohl aber daran, dass eine komplette Betonsanierung erforderlich gewesen sei, handele es sich um neues Vorbringen iSv § 531 II ZPO, das nicht zuzulassen sei. 

Entscheidung: Das LG hat das rechtliche Gehör des K verletzt

Darstellung der Grundsätze

Ein Gericht verletze das Verfahrensgrundrecht der Parteien aus Art. 103 I GG, wenn es ein erhebliches Beweisangebot nicht berücksichtige und dies im Prozessrecht keine Stütze finde (Hinweis auf BGH NJW 2019, 3147 Rn. 12). Ein erhebliches Beweisangebot könne nur dann außer Acht bleiben, wenn das Beweismittel ungeeignet sei, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen könne (Hinweis auf BGH BeckRS 2015, 10179 Rn. 12). Bei der Zurückweisung eines Beweismittels als ungeeignet sei aber größte Zurückhaltung geboten; es müsse jede Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass der übergangene Beweisantrag Sachdienliches ergeben könnte (Hinweis ua auf BVerfG NJW 1993, 254 [255]; BGH NJW 2018, 2803 Rn. 9 = FD-ZVR 2018, 407222 [Ls.]). Insbes. komme eine Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet nicht in Betracht, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt werde, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstelle (Hinweis ua auf BGH NJW-RR 2015, 158 Rn. 17 und BGH NJW-RR 2013, 9 Rn. 14).

Anwendung der Maßstäbe

Nach diesen Maßstäben habe das LG von der Vernehmung des S nicht absehen dürfen. Selbst wenn S in einer E-Mail erklärt haben sollte, keine Angaben mehr zum Inhalt seines Gutachtens machen zu können, wäre er nicht als untaugliches Beweismittel anzusehen. Von der Vernehmung eines Zeugen dürfe nicht deshalb abgesehen werden, weil dieser außergerichtlich erklärt habe, sich an den unter Beweis gestellten Vorgang nicht zu erinnern. Eine solche Erklärung lasse es nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass die Beweiserhebung Sachdienliches ergebe. Die Erinnerung eines Zeugen könne im Rahmen seiner Vernehmung durch den Richter wiederkehren, insbes. wenn der Zeuge sich selbst ausreichend vorbereite (§ 378 ZPO) und ihm zur Auffrischung seines Gedächtnisses Unterlagen aus der Zeit des Vorgangs, Lichtbilder u.ä. vorgelegt werden würden. Es widerspräche zudem den Grundgedanken der Regelungen über die Pflicht des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen (§§ 380, 390 ZPO), wenn ein Zeuge damit rechnen könnte, dass die schlichte Erklärung – noch dazu per E-Mail –, sich nicht zu erinnern, dazu führe, dass das Gericht auf seine Ladung verzichte. 

Praxishinweis

Ungeeignetheit eines Beweismittels

Ein Beweisantritt kann entsprechend § 244 III 2 Fall 4 StPO wegen Ungeeignetheit des Beweismittels zurückgewiesen werden. An die Untauglichkeit des Beweismittels sind freilich strenge Anforderungen zu stellen. Der Richter darf in Zivilverfahren von der Erhebung zulässiger und rechtzeitig angetretener Beweise nur dann absehen, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder die Richtigkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen bereits erwiesen (oder zugunsten des Beweisbelasteten zu unterstellen ist), wobei bei der Zurückweisung eines Beweismittels als „ungeeignet“ größte Zurückhaltung geboten ist (BGH NJW-RR 2019, 380 Rn. 14 = FD-ZVR 2019, 414190 mAnm Elzer). Weder die Unwahrscheinlichkeit einer Tatsache noch der Wahrnehmung durch den Zeugen berechtigen den Tatrichter, von einer Beweisaufnahme abzusehen. Insbes. kommt keine Ablehnung eines Beweisantrags als „ungeeignet“ in Betracht, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, da dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt. Vielmehr kann von einem untauglichen Beweismittel nur dann ausgegangen werden, wenn es vollkommen ausgeschlossen erscheint, dass die Beweisaufnahme irgendetwas Sachdienliches ergeben könnte.

„Unwert“ eines Beweismittels

Ein Beweisantritt kann ferner zurückgewiesen werden, wenn der „Unwert“ eines Beweismittels feststeht, weil nach dem Ergebnis einer bereits durchgeführten Beweisaufnahme jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass der Beweisantrag Sachdienliches ergeben und die von dem Gericht bereits gewonnene Überzeugung erschüttern kann (BGH FamRZ 2014, 749 Rn. 12 = BeckRS 2014, 04546; BGH BeckRS 2011, 13994 Rn. 13). 

Redaktion beck-aktuell, 8. April 2020.

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