BGH: Verstoß gegen Parteianträge und Dispositionsmaxime

ZPO § 308 I 1

Ein Gericht entscheidet unter Verstoß gegen die im Zivilprozess geltende Dispositionsmaxime, wenn es seinem Urteilsausspruch über einen auf Irreführung gestützten Unterlassungsantrag einen Irreführungsaspekt zugrunde legt, den der Kläger nicht schlüssig vorgetragen hat (Fortführung von BGH GRUR 2017, 295 – Entertain). (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Urteil vom 11.10.2017 - I ZR 78/16, BeckRS 2017, 141118

Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin 

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 04/2018 vom 23.02.2018

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Sachverhalt

K beantragt ua, B zu verurteilen, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr kosmetische Pflegemittel anzubieten und/oder in den Verkehr zu bringen und/oder zu bewerben, wenn die Verpackung eine Höhe von 7 cm aufweist und der in der Verpackung enthaltene Tiegel (mit Deckel) nur eine Höhe von 4 cm hat. Das LG weist die Klage ab, das OLG gibt ihr auf die Berufung der K statt. Es sei eine Irreführung über die Größe des in der äußeren Umverpackung enthaltenen Cremetiegels gegeben. Im Revisionsverfahren ist ua streitig, ob das OLG (GRUR-RR 2016, 248) seine Annahme einer Irreführung rechtsfehlerhaft auf Umstände gestützt, die K nicht zur Begründung seiner Klageanträge vorgetragen hat und das OLG damit gegen § 308 I 1 ZPO oder die zivilpro- Dispositionsmaxime verstoßen hat. Der BGH verneint beide Fragen.

Entscheidung

Nach § 308 I 1 ZPO sei das Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was sie nicht beantragt habe. Das zusprechende Urteil müsse sich daher innerhalb des mit der Klage anhängig gemachten Streitgegenstands halten (Hinweis ua auf BGH GRUR 2018, 203 Rn. 15 – Betriebspsychologe mAnm Toussaint FD-ZVR 2018, 401841 und BGH GRUR 2016, 1301 Rn. 26 – Kinderstube). Der neben dem Klageantrag für die Bestimmung des Streitgegenstands maßgebliche Klagegrund werde durch den gesamten historischen Lebensvorgang bestimmt, auf den sich das Rechtsschutzbegehren der Klagepartei beziehe (Hinweis auf BGH GRUR 2013, 401 Rn. 19 – Biomineralwasser). Werde ein Unterlassungsanspruch auf das lauterkeitsrechtliche Irreführungsverbot gestützt, werde der maßgebliche Lebensvorgang maßgeblich dadurch bestimmt, durch welche Angabe welcher konkrete Verkehrskreis angesprochen werde, welche Vorstellungen die Angabe bei diesem angesprochenen Verkehrskreis auslöse und ob diese Vorstellung unwahr sei (Hinweis ua auf BGH GRUR 2018, 203 Rn. 18 – Betriebspsychologe mAnm Toussaint FD-ZVR 2018, 401841 und BGH GRUR 2017, 418 Rn. 13 – Optiker-Qualität). In den Fällen, in denen sich die Klage gegen eine konkrete Verletzungsform richte, sei gerade in dieser Verletzungsform der Lebenssachverhalt zu sehen (Hinweis auf BGH GRUR 2013, 401 Rn. 24 – Biomineralwasser). Im Fall umfasse die konkrete Behauptung einer Irreführung des Verbrauchers durch eine Aufmachung den Streitgegenstand – und damit sowohl die mit der Klage geltend gemachte Fehlvorstellung über die Füllmenge des Tiegels als auch die vom OLG zugrunde gelegte Fehlvorstellung über die Größe des Tiegels.

Das OLG habe durch die Annahme, es liege zwar keine Irreführung über die Füllmenge der Creme, wohl aber eine Irreführung über die Größe des Tiegels vor, die Verurteilung auch nicht unter Verstoß gegen Dispositionsmaxime auf einen Irreführungsaspekt gestützt, den K nicht vorgetragen habe. Auch bei einem auf das Verbot der konkreten Verletzungsform gerichteten Klageantrag könne der Kläger sein Rechtsschutzbegehren nach der Dispositionsmaxime allerdings dahin fassen, dass aus einem bei natürlicher Betrachtungsweise einheitlichen Lebenssachverhalt nur bestimmte Teile zur Beurteilung herangezogen werden sollen (Hinweis auf BGH ZUM-RD 2013, 314 Rn. 35 und BGH GRUR 2010, 158 Rn. 22 – FIFA-WM-Gewinnspiel). Dementsprechend dürfe das Gericht eine Verurteilung nur auf diejenigen Irreführungsgesichtspunkte stützen, die der Kläger schlüssig vorgetragen habe. Die schlüssige Darlegung setze Vortrag dazu voraus, durch welche Angabe welcher konkrete Verkehrskreis angesprochen werde, welche Vorstellungen die Angabe bei diesem angesprochenen Verkehrskreis ausgelöst habe, warum diese Vorstellung unwahr sei und dass die so konkretisierte Fehlvorstellung geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er anderenfalls nicht getroffen hätte. So liege es im Fall auch. K habe die Klage auch auf eine enttäuschte Verbrauchererwartung in Bezug auf die Größe des Tiegels gestützt.

Praxishinweis

Neben einem Verstoß gegen § 308 I 1 ZPO kann es wohl – anders als vom BGH angenommen – keinen (zusätzlichen) Verstoß gegen die Dispositionsmaxime geben. § 308 I 1 ZPO ist gerade Ausdruck der im Zivilprozess geltenden Dispositionsmaxime (BAG NZA 2016, 1475 Rn. 18; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 14. Auflage, § 308 Rn. 1; MüKoZPO/Musielak, 5. Auflage, § 308 Rn. 9; BeckOK ZPO/Elzer, 27. Ed. 1.12.2017, § 308 Rn. 1). Spitzt die klagende Partei den Streitgegenstand auf eine bestimmte Irreführung zu und sieht man dann darin den Streitgegenstand – die Idee von BGH GRUR 2013, 401 Rn. 24 – Biomineralwasser –, liegt dann ein Verstoß gegen § 308 I 1 ZPO vor, wenn das Gericht etwas zuspricht, was die klagende Partei vorher gleichsam auch dem Streitgegenstand „herausgeschnitten“ hat. Freilich ist die Idee, dass der Kläger den eigentlichen Streitgegenstand beschneiden kann, auch nicht frei von Zweifeln. Jedenfalls muss der Zuschnitt wohl im Antrag stattfinden.

Redaktion beck-aktuell, 1. März 2018.

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