OLG Stuttgart: COVID-19-Pandemie ist wichtiger Grund für über 6 Monate hinaus andauernde Untersuchungshaft

StPO §§ 121, 122

1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 I StPO dar.

2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.

3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein - vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer.

4. Dabei wird allerdings - auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden - ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. (amtl. Ls.)

OLG Stuttgart, Beschluss vom 06.04.2020 - H 4 Ws 72/20, BeckRS 2020, 5689

Anmerkung von 
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und Steuerrecht, Björn Krug, LL.M. (Wirtschaftsstrafrecht), Ignor & Partner GbR, Berlin und Frankfurt a.M.

Aus beck-fachdienst Strafrecht 09/2020 vom 30.04.2020

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Sachverhalt

Der A befindet sich nach vorläufiger Festnahme seit 9.10.2019 aufgrund des an diesem Tag erlassenen und eröffneten Haftbefehls des AG in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, ab der zweiten Septemberhälfte 2019 einen gewinnbringenden Handel mit Btm. getrieben zu haben, um sich auf diese Weise eine Einnahmequelle von einigem Umfang, einiger Dauer und zur Erzielung beträchtlicher Gewinne zu verschaffen. In der mittlerweile erhobenen Anklage wird ihm weiter vorgeworfen, dass er Btm. in den Tagen zuvor in Frankreich erworben, übernommen und nach Deutschland verbracht habe. Außerdem soll er zusätzlich eine gefälschte französische Identitätskarte sowie einen gefälschten französischen Führerschein bei sich gehabt haben. Alle drei Dokumente lauten auf eine nichtexistierende Person. A soll die Dokumente mit sich getragen haben, um im Zusammenhang mit seinen illegalen Arznei- und Betäubungsmittelgeschäften seine Identität zu verschleiern. Das AG hat einen zunächst auf 20.3.2020 bestimmten Termin zur Hauptverhandlung auf Antrag des Verteidigers am 16.3.2020 wegen der COVID-19-Pandemie aufgehoben und neuen Termin auf den 21.4.2020 bestimmt. Es hält die Haftfortdauer für erforderlich und hat am 16.3.2020 die Akten zur Haftprüfung dem OLG vorgelegt. Die GenStA beantragt, Haftfortdauer anzuordnen.

Entscheidung

Die nach §§ 121 II, 122 StPO vorzunehmende Haftprüfung ergebe, dass die Untersuchungshaft über die Dauer von sechs Monaten hinaus aufrechterhalten werden darf. A sei dringend verdächtig, die aufgeführten Taten begangen zu haben (wird ausgeführt). Der Haftgrund der Fluchtgefahr liege vor (wird ausgeführt). Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stehe weder zu der Bedeutung der Sache noch zur Straferwartung außer Verhältnis. Durch weniger einschneidende Maßnahmen) könne der Fluchtgefahr weder durch Sicherheitsleistungen noch durch Auflagen effektiv entgegengewirkt werden.

Auch die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus lägen vor. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung ist gewahrt. Wegen eines wichtigen Grundes, welcher die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertige, konnte ein Urteil noch nicht ergehen.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei stets das Spannungsverhältnis zwischen Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Nach diesem Maßstab und den zum jetzigen Zeitpunkt zu stellenden Anforderungen sei die Fortdauer der Untersuchungshaft vorliegend noch gerechtfertigt. (wird ausgeführt) Am 16.3.2020 habe der Verteidiger eine Verlegung des Hauptverhandlungstermins beantragt, weil er (gerichtsbekannt) gesundheitlich massiv durch einen Herzinfarkt vorgeschädigt sei und deshalb zu einer Risikogruppe für die aktuell grassierende Coronainfektion zähle. Der Vorsitzende sei diesem Antrag nachgekommen und verfügte sofort die Verlegung des Hauptverhandlungstermins. Der neue Hauptverhandlungstermin habe nur zwei Tage nach Ablauf der angeordneten Schutzmaßnahmen zum 19.4.2020 stattfinden sollen. Eine frühere Terminierung schien dem Vorsitzenden nach seiner Einschätzung angesichts der geltenden „Isolationsmaßnahmen" auch unter Berücksichtigung der aktuell für den Verteidiger bestehenden massiven Gesundheitsgefahr nicht möglich. Dies entsprach in jedem Belang dem Beschleunigungsgebot.

Es bestehe ein anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 I StPO, der es rechtfertigt, den Vollzug der Untersuchungshaft gegen A über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Die Verlegung der Hauptverhandlung unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft sei hier aus sachlichen Gründen zwingend geboten bzw. unumgänglich; sie beruhe nicht auf vermeidbaren, den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen, vielmehr beruht die Aussetzung der Hauptverhandlung auf außergewöhnlichen und von niemandem zu vertretenden Umständen. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellten einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 StPO dar. In Anbetracht der zwischenzeitlich als nachgewiesen anzusehenden hohen Ansteckungsgefahr, der vermutlich hohen Anzahl unentdeckter Infektionen und des derzeit noch nicht abschließend einschätzbaren Ausmaßes schwerer bis tödlicher Krankheitsverläufe könne ein solcher wichtiger Grund deshalb auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht - wie hier - nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren (wird ausgeführt). Es sei kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass die Entscheidung hier leichtfertig, gar willkürlich oder unter Verkennung der hohen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts des inhaftierten A getroffen worden wäre.

Für das weitere Verfahren weise der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs eines Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert. Falls sich entgegen des AG die Gefährdungslage zum 21.4.2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, würden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein (wird ausgeführt).

Praxishinweis

Die Entscheidung entspricht in Argumentation und Ergebnis der vor kurzem ergangenen Entscheidung des OLG Karlsruhe zu einem vergleichbaren Sachverhalt (BeckRS 2020, 4623). Beachtung verdient insbesondere die Darlegung eines wichtigen Grundes für die Verlängerung: Fällt dieser in die Sphäre des Angeklagten, ist er zu bejahen, fällt er in die Sphäre der Justiz, ist er zu verneinen (wobei die Rechtsprechung schon dabei viele Ausnahmen macht, vgl. KK-StPO/Schultheis, § 121 Rn. 16 ff. mwN.). Bei von keiner Seite zu vertretenden Verzögerungen wird die – aus Justizsicht – pragmatische Entscheidung jedoch mit zunehmender Dauer problematisch, ist die Untersuchungshaft doch auch aus der Perspektive des nicht verurteilten Inhaftierten zu betrachten, für den die Unschuldsvermutung streitet. Ob kurzfristig anberaumte Hauptverhandlungen mit Spuckschutzwänden, großem Abstand zwischen allen Beteiligten, Maskentragepflicht und einem faktischen Ausschluss der Öffentlichkeit den Ansprüchen an ein rechtsstaatliches Verfahren genügen, ist fragwürdig. Umso mehr sollte die Justiz in geeigneten Fällen alle Möglichkeiten einer Außervollzugsetzung oder einer Erledigung ohne/mit kurzer Hauptverhandlung erwägen. Die Kontrollfrage sollte sein: Was ist, wenn die Pandemie nicht in einigen Wochen beendet ist und eine wirklich sichere Hauptverhandlung noch lange Zeit ausscheidet?

Redaktion beck-aktuell, 5. Mai 2020.