LG Ver­den: Bin­den­de Pflicht­ver­tei­di­ger­be­stel­lung bei An­trag der Staats­an­walt­schaft

StPO §§ 141 III 3, 142 I, 169 a, 305

Ein ge­stell­ter An­trag der Staats­an­walt­schaft in der An­kla­ge­schrift zur Bei­ord­nung eines Pflicht­ver­tei­di­gers wird nicht da­durch un­wirk­sam, dass der Ver­tei­di­ger unter Be­zug­nah­me auf die An­kla­ge­schrift seine Bei­ord­nung als Pflicht­ver­tei­di­ger be­an­tragt. Der ein­mal ge­stell­te An­trag kann in der Folge nicht mehr zu­rück­ge­nom­men wer­den.

LG Ver­den, Be­schluss vom 09.06.2017 - 1 Qs 61/17, BeckRS 2017, 141441

An­mer­kung von
Rechts­an­wäl­tin Dr. As­trid Lilie-Hutz, Knie­rim & Kol­le­gen Rechts­an­wäl­te, Mainz

Aus beck-fach­dienst Straf­recht 07/2018 vom 5.4.2018

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Sach­ver­halt

In der gegen den An­ge­klag­ten (A) er­ho­ben An­kla­ge hat die Staats­an­walt­schaft neben der Er­öff­nung des Haupt­ver­fah­rens auch die Bei­ord­nung „eines/einer Pflicht ver­tei­di­gers/-in“ be­an­tragt. Mit Zu­stel­lung der An­kla­ge­schrift hat A Kennt­nis von dem An­trag der Staats­an­walt­schaft er­langt und hat be­an­tragt, ihm Herr Rechts­an­walt B, als Pflicht­ver­tei­di­ger bei­zu­ord­nen. Das AG hat den An­trag zu­rück­ge­wie­sen. Gegen die­sen Be­schluss hat A Be­schwer­de ein­ge­legt.

Recht­li­che Wür­di­gung

Die Be­schwer­de von A gegen den Be­schluss des AG durch wel­chen das AG den mit Schrift­satz des Ver­tei­di­gers ge­stell­ten An­trag, ihm B als Pflicht­ver­tei­di­ger bei­zu­ord­nen, zu­rück­ge­wie­sen hat, sei unter sach­ge­recht vor­zu­neh­men­der te­leo­lo­gi­scher Re­duk­ti­on des § 305 StPO statt­haft und auch im Üb­ri­gen zu­läs­sig. Sie habe auch in der Sache Er­folg. Denn nach Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen sei auf An­trag der StA ein Ver­tei­di­ger zu be­stel­len. Gemäß § 141 III 3 StPO sei das Ge­richt nach Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen (§ 169a StPO) dazu ver­pflich­tet, A einen Pflicht­ver­tei­di­ger zu be­stel­len, wenn die StA dies be­an­tra­ge. Vor­lie­gend sei der Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen in der Akte ver­merkt und An­kla­ge er­ho­ben wor­den. Im Rah­men die­ser An­kla­ge und mit­hin nach Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen habe die StA neben der Er­öff­nung des Haupt­ver­fah­rens auch die Bei­ord­nung „eines/einer Pflicht­ver­tei­di­gers/-in“ be­an­tragt. In­so­fern die StA im Rah­men der Ver­fü­gung ihren zuvor ge­stell­ten An­trag zu­rück­ge­nom­men habe, sei dies ohne Aus­wir­kung. Ein ein­mal ge­stell­ter An­trag könne in der Folge nicht mehr zu­rück­ge­nom­men wer­den. Eine an­de­re Be­wer­tung er­ge­be sich auch nicht aus dem Um­stand, dass sich B nach dem ge­stell­ten An­trag der StA und noch vor einer Ent­schei­dung des AG über die be­an­trag­te Pflicht­ver­tei­di­ger­be­stel­lung mit Schrei­ben für A le­gi­ti­miert habe. In die­sem Schrei­ben habe B unter Be­zug­nah­me auf die An­kla­ge­schrift seine Bei­ord­nung als Pflicht­ver­tei­di­ger be­an­tragt. Der zuvor ge­stell­te An­trag der StA sei durch das Schrei­ben von V nicht ge­gen­stands­los ge­wor­den. Die StA habe ihren An­trag auf Pflicht­ver­tei­di­ger­be­stel­lung be­reits in der An­kla­ge­schrift ge­stellt. A sei diese An­kla­ge „zur Er­klä­rung in­ner­halb einer Woche“ zu­ge­stellt wor­den. Mit die­ser Zu­stel­lung habe A Kennt­nis von dem An­trag der StA er­lagt. Gemäß § 142 I StPO solle dem A vor einer Ent­schei­dung über die Per­son des not­wen­di­gen Ver­tei­di­gers Ge­le­gen­heit ge­ge­ben wer­den, einen Ver­tei­di­ger sei­ner Wahl zu be­nen­nen. Diese Vor­schrift kon­kre­ti­sie­re sich re­gel­mä­ßig zu einer An­hö­rungs­ver­pflich­tung des Ge­rich­tes. Un­ab­hän­gig davon, ob A zuvor zu einer sol­chen Er­klä­rung auf­ge­for­dert wor­den sei, sei die Ver­fü­gung ohne Wei­te­res da­hin­ge­hend aus­zu­le­gen, dass die Mög­lich­keit der Er­klä­rung sich auch auf den An­trag der StA zur Pflicht­ver­tei­di­ger­be­stel­lung be­zie­he, sei in der Le­gi­ti­mie­rung von B die Wahr­neh­mung eines sol­chen Aus­wahl­rech­tes durch A zu sehen. Dies er­ge­be sich ins­be­son­de­re aus dem Um­stand, dass der Ver­tei­di­ger in dem ge­nann­ten Schrei­ben aus­drück­lich unter Be­zug­nah­me auf den An­trag der StA einen An­trag auf Bei­ord­nung als not­wen­di­ger Ver­tei­di­ger ge­stellt habe. Seine in dem vor­an­ge­hen­den Ab­satz er­folg­te Le­gi­ti­ma­ti­on für A war dabei er­for­der­lich, um über­haupt in des­sen Namen einen ent­spre­chen­den An­trag stel­len zu kön­nen.

Pra­xis­hin­weis

Noch wäh­rend der Er­mitt­lun­gen kann dem Be­schul­dig­ten ein Ver­tei­di­ger auf An­trag der Staats­an­walt­schaft be­stellt wer­den, § 169a. Mit dem „Zwei­ten Ge­setz zur Stär­kung der Ver­fah­rens­rech­te von Be­schul­dig­ten im Straf­ver­fah­ren und zur Än­de­run­gen des Schöf­fen­rechts“ in Um­set­zung der Richt­li­nie 2013/48/EU kann die Staats­an­walt­schaft bei rich­ter­li­chen Ver­neh­mun­gen auch einen An­trag auf Bei­ord­nung gem. § 141 III S. 4 nF stel­len. Stellt die Staats­an­walt­schaft aber nach dem Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen einen ent­spre­chen­den An­trag, muss dem Be­schul­dig­ten ein Pflicht­ver­tei­di­ger bei­ge­ord­net wer­den, wie das LG es hier auch ent­schie­den hat. Das gilt auch dann, wenn die Vor­aus­set­zun­gen des § 140 StPO nach Auf­fas­sung des zu­stän­di­gen Ge­richts nicht (mehr) ge­ge­ben sind. Daher kann auch der der ein­mal ge­stell­te Bei­ord­nungs­an­trag der Staats­an­walt­schaft nicht zu­rück­ge­nom­men wer­den kann. Sinn und Zweck ist, dass die Staats­an­walt­schaft als Her­rin des Er­mitt­lungs­ver­fah­rens die Kom­ple­xi­tät der gegen den Be­schul­dig­ten er­ho­be­nen Vor­wür­fe am bes­ten ein­schät­zen kann, so­dass das nach Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen das Ver­fah­ren über­neh­men­de Ge­richt diese ur­sprüng­lich ge­trof­fe­ne Ein­schät­zung nicht mehr re­vi­die­ren kön­nen soll.

Redaktion beck-aktuell, 9. April 2018.

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