AG Grimma: Cannabis-Anbau kann eine Notstandshandlung sein

BtMG §§ 1 I, 3 I Nr. 1, 29a I Nr. 2; StGB § 34

Es kann im Rahmen der Notstandhandlung festzustellen sein, dass das Anbauen des Cannabis zur Linderung von Krankheitssymptomen eines Dritten das mildeste Mittel iSd § 34 StGB ist. (Leitsatz des Verfassers)

AG Grimma, Urteil vom 08.12.2017 - 2 Ls 106 Js 18122/16, BeckRS 2017, 137632

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Christian Rathgeber, Mag. rer. publ., Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 23/2018 vom 22.11.2018

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Sachverhalt

Seit einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor dem 1.6.2016 hatte der Angeklagte (A) im Erdgeschoss seines Wohnhauses Cannabispflanzen wissentlich und willentlich aufgezogen. Das Gewicht des Blattwerkes der Pflanzen betrug 321 Gramm netto mit einem Wirkstoffgehalt von 3,5% Delta-9-Tetrahydrocannabinol. Das Blattwerk verfügte unter Abzug eines zehnprozentigen Sicherheitsabschlages mithin über eine Mindestmasse von 10,10 Gramm Delta-9-THC. A war nicht im Besitz einer für den Umgang mit Betäubungsmitteln erforderlichen Erlaubnis, was er auch wusste. A wurde daher wegen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß §§ 1 I, 3 I Nr. 1, 29a I Nr. 2 BtMG angeklagt.

Entscheidung: Versagen des Gesundheitssystems in diesem Einzelfall begründet Notstand

Das Gericht spricht den A frei. Den Sachverhalt habe A vollumfänglich eingeräumt. Der Tatbestand der genannten Strafnormen sei daher erfüllt. Das Verhalten des A sei jedoch über den rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB gerechtfertigt und damit nicht rechtswidrig gewesen.

Die einzelnen Voraussetzungen der Notstandslage, der Notstandhandlung und das subjektive Rechtfertigungselement lägen vor. Insbesondere sei im Rahmen der Notstandhandlung festzustellen, dass das Verhalten des A – das Anbauen des Cannabis zur Linderung der Krankheitssymptome seines Mitbewohners (Z) – das mildeste Mittel iSd § 34 StGB gewesen sei. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und nach der Einvernahme des Sachverständigen stehe für das Gericht fest, dass das deutsche Gesundheitssystem der sehr individuellen Krankheitssituation des Z über Jahre hinweg nicht gerecht geworden und der A und der Z schlicht keinen anderen Weg als den der Selbstmedikation mit Cannabis hätten gehen können. Insbesondere hätte auch eine weiterreichende Diagnostik an der Charité in Berlin nicht viel bewirkt. Der Sachverständige habe insoweit nachvollziehbar bestätigt, was A und Z selbst schon gemeint hätten: Die Chance, dass durch diese Diagnostik etwas „Therapiebares“ herausgekommen sei, sei minimal gewesen. Z leide eben nicht unter einer bekannten und „normal diagnostizierbaren“ Krankheit. Vielmehr weise er zahlreichste Krankheitssymptome auf, die – wenn überhaupt – nur zu einer Ausschlussdiagnose führen können. Bei derartigen Ausschlussdiagnosen gehe es aber – so auch der Sachverständige – nur um die Linderung dieser Symptome und nicht um Heilung im klassischen Sinne. Eine weitere Diagnostik hätte daher an dem Zustand des Z nichts geändert. Im Gegenzug hätte sie für ihn aber immenses Leid gebracht und maximale Anstrengung – sowohl körperlich als auch psychisch – erfordert. Dies gebe sein Zustand aber kaum noch her. Zudem hätten nach den Ausführungen des A und des Z, welche wiederum vom Sachverständigen bestätigt worden seien, keine Medikamente zur Verfügung gestanden, die ähnliche Linderung wie Cannabis bewirkt hätten. Eine nach damaliger Rechtslage noch notwendige Ausnahmegenehmigung nach dem BtMG sei für den Z real nicht zu erlangen gewesen. Er selbst habe nachvollziehbar geschildert, dass sich kein Arzt ansatzweise näher mit seiner Wahrnehmung, dass Cannabis ihm tatsächlich helfe, die ständigen Qualen zu überstehen, habe beschäftigen wollen. Der Sachverständige habe dies bestätigt und das damit erklärt, dass der Zeuge an keiner Krankheit leide, die gesichert als Diagnose vorliege. Die Ausschlussdiagnose Chronic Fatigue Syndrome habe bisher keiner getroffen, was seinerseits daran läge, dass sich Ärzte sowieso grundsätzlich vor derartigen Diagnosen scheuten. Sie würden nur sehr selten gestellt. Die Folge einer fehlenden Diagnose sei aber auch, dass eine Ausnahmegenehmigung kaum zu erlangen sei. In den gesamten Jahren seit 2011 habe es nur wenige tausend Fälle gegeben, die ihrerseits nur bei diagnostizierten Krankheiten – zB Multiple Sklerose – ausgegeben worden seien. Der Sachverständige habe die für den Z und den A als dessen wichtigste Bezugsperson durchlittene Zeit der Suche als Tragödie bezeichnet und als Ausweg nur den Umzug in die Niederlande gesehen. Dass ein Umzug in die Niederlande kein milderes Mittel nach § 34 StGB sein könne, stehe für das Gericht mit Blick darauf, dass die Beteiligten deutsche Staatsangehörige seien, fest. Vielmehr fasse diese Einordnung des Sachverständigen die Tragik und die ganz konkrete Hilflosigkeit der Medizin in diesem ganz konkreten Fall treffend zusammen und lasse keine Zweifel an der Erforderlichkeit des Handelns des A iSd § 34 StGB.

Praxishinweis

Ungeachtet der persönlich tragischen Situation, erscheint die Begründung der vorliegenden Entscheidung aus rechtlicher Sicht interessant. Die Voraussetzung, dass eine gegenwärtige Gefahr nicht anders als eben durch die Notstandshandlung abwendbar sein darf, wird regelmäßig dann verneint, wenn etwa staatliche Hilfe rechtzeitig herbeigeholt werden könnte (BGHSt 39, 133 [137]) oder wenn die Lösung der von dieser Vorschrift vorausgesetzten Konfliktlage einem besonderen Verfahren oder einer bestimmten Institution vorbehalten ist (BGHSt 61, 202). Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass der unerlaubte Umgang mit Betäubungsmitteln zum Zwecke der Eigenbehandlung regelmäßig nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt sein kann, weil es an der Erforderlichkeit fehle (BGH NStZ 2018, 226). Andere Gerichte halten eine solche Rechtfertigung eher für möglich, wenn die Wirksamkeit im Einzelfall hinreichend feststehe (OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 7027) und verlangen auch nicht zwingend den Versuch, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten (KG BeckRS 2009, 22705). Vorliegend scheint lediglich die Eigenwahrnehmung des Kranken die Wirksamkeit der Selbstmedikation mit Cannabis zu bestätigen. Auch nach der vom Gericht angeführten neuen Rechtslage – nach Verabschiedung des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ im Januar 2017 – wäre die ärztliche Feststellung der Geeignetheit und Notwendigkeit weiterhin erforderlich. Ob das Fehlen einer solchen Diagnose bzw. Verordnung als ein Versagen des Gesundheitssystems, wie es das Gericht vorliegend annimmt, einen rechtfertigenden Notstand begründen kann, ist eine bisher nicht entschiedene Frage.

Redaktion beck-aktuell, 26. November 2018.

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