LSG Hessen: Erstreckung der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht auf berufsfremde Tätigkeiten

SGB VI § 6; SGB X § 39; BRAO § 47

Die einem angestellten Rechtsanwalt gemäß § 6 Abs. 1 SGB VI erteilte Befreiung ist nach § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI auf eine befristete berufsfremde angestellte Tätigkeit im öffentlichen Dienst (hier: Mitarbeiter im Jobcenter) zu erstrecken, auch wenn diese Tätigkeit nicht unmittelbar der Tätigkeit folgt, für die der Angestellte gemäß § 6 Abs. 1 SGB VI zuvor befreit worden war. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Hessen, Urteil vom 19.12.2019 - L 1 KR 267/19, BeckRS 2019, 40362

Anmerkung von
Rechtsanwalt Martin SchafhausenPlagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 07/2020 vom 09.04.2020

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Sachverhalt

Der Kläger begehrt die Erstreckung der Befreiung von der Versicherungspflicht auf eine für die Zeit vom 20.04.2015 bis 19.04.2016 befristete Tätigkeit für die „Pro Arbeit“ des Landkreises B. (Anstalt des öffentlichen Rechts). Der 1966 geborene Kläger ist Jurist und war ab März 1996 bis 2017 Mitglied einer Rechtsanwaltskammer. Als angestellter Rechtsanwalt war er beschäftigt seit 1999. Die beklagte DRV Bund hatte den Kläger gemäß § 6 Abs. 1 SGB VI von der Rentenversicherungspflicht befreit. Nachdem der Kläger zum 31.12.2008 seine Tätigkeit als angestellter Rechtsanwalt beendet hat, war er zunächst arbeitslos und in der Folgezeit mehrfach befristet beschäftigt. Für die befristeten Beschäftigungen hat die Beklagte auf Antrag gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI die ursprüngliche Befreiung auf diese Tätigkeiten erstreckt. Nach einer erneuten Arbeitslosigkeit nahm der Kläger im April 2015 eine bis zum April 2016 befristete Beschäftigung beim Landkreis – Pro Arbeit – als Sachbearbeiter im Bereich der Grundsicherung auf und beantragte bei der Beklagten erneut die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI. Dazu legte er die Bestätigung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte vor, wonach die Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk bestehe und einkommensbezogene Beiträge gezahlt werden.

Unter Bezug auf das Urteil des BSG vom 31.10.2012 (BeckRS 2013, 67985)  lehnt die Beklagte die Erstreckung der Befreiung auf diese Angestelltentätigkeit ab. Die Befreiung im Wege einer Erstreckung komme nur in Betracht, wenn unmittelbar vor Aufnahme der versicherungspflichtigen berufsfremden Beschäftigung oder Tätigkeit eine durch einen Bescheid nach § 6 Abs. 1 SGB VI befreite berufsspezifische Tätigkeit ausgeübt worden war. Der Kläger sei als Mitarbeiter der Pro Arbeit berufsfremd beschäftigt. Daneben liegt keine aktuell wirksame Befreiung für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit im Kammerberuf vor.

Gegen den ebenfalls ablehnenden Widerspruchsbescheid erhob der Kläger Klage. Er war über das Jahr 2008 (Ende seiner angestellten Anwaltstätigkeit) als Anwalt zugelassen und habe seine Altersversorgung als Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerkes ausgerichtet. Auf die Altersrente seitens des Versorgungswerkes ist der Kläger angewiesen. Schließlich hat er erst Ende 2018 einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten. Das Sozialgericht gibt der Klage statt und verpflichtet die Beklagte, die ursprüngliche Befreiung vom 15.12.1999 (für die angestellte Anwaltstätigkeit) auch auf die in der Zeit vom 20.04.2015 bis 19.04.2016 ausgeübte Beschäftigung zu erstrecken. Als zugelassener Rechtsanwalt war er Pflichtmitglied beim Versorgungswerk auch während der hier streitigen Zeit. Die Erstreckung der Befreiung gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI setzt das ununterbrochene Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen voraus (Pflichtmitglied in der berufsständischen Versorgung und der Kammer) und Befreiung im Übrigen. Mit der Ausnahmeregelung soll sichergestellt werden, dass eine vorübergehende berufsfremde Tätigkeit nicht zu einem Wechsel des Alterssicherungssystems führe. Die Bestimmung zielt auf „Versicherungskontinuität“.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die erneut unter Bezug auf Rechtsprechung des BSG geltend macht, dass die Erstreckung einer Befreiung gemäß § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI nur dann in Betracht kommt, wenn die Befreiung dieser Befreiungstätigkeit sich an eine Tätigkeit anschließt, für die die Befreiung gemäß § 6 Abs. 1 SGB VI erteilt worden ist. 

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück, lässt aber die Revision zu. Der ursprüngliche Bescheid vom 15.12.1999 betraf ausschließlich die Tätigkeit als angestellter Rechtsanwalt und gilt über dieses Anstellungsverhältnis hinaus nicht. Die befristete Tätigkeit für die Pro Arbeit bestand aufgrund § 47 BRAO ein – zulassungserhaltendes – Berufsausübungsverbot und damit ein durch das BSG (a.a.O.) ausdrücklich eröffneter Anwendungsfall des § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI. Der ursprüngliche Bescheid hat sich „auf andere Weise“ gemäß § 39 Abs. 2 SGB X erledigt. Dies steht aber einer Erstreckung der Befreiung auf eine nachfolgende berufsfremde Tätigkeit nicht entgegen. Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI und vor allem aus dem Sinn und Zweck. Danach kommt es lediglich darauf an, dass vor der berufsfremden Tätigkeit die „grundlegenden Befreiungsvoraussetzungen – insbesondere die Pflichtmitgliedschaften in der berufsständischen Versorgungseinrichtung und in der berufsständischen Kammer“ vorliegen. Erst wenn der Hauptberuf für längere Zeit (z. B. zwei Jahre) unterbrochen wurde, stellt sich die Frage, ob die Befreiung noch auf die berufsfremde Tätigkeit erstreckt werden kann.

Praxishinweis

1.  Das LSG hat die Revision zugelassen, weil eine Entscheidung des BSG zur Erstreckung der Befreiung nach Unwirksamkeit eines Befreiungsbescheides infolge anderweitiger Erledigung bisher nicht vorliege.

2.  Nach Segebrecht (in Kreikebohm, SGB VI § 6 Rn. 118) muss die berufsfremde befristete Beschäftigung zeitlich unmittelbar auf die befreite berufsspezifische Tätigkeit folgen. Diese Auslegung wird vom LSG ausdrücklich abgelehnt. Unter Umständen liefe sie auf eine Diskriminierung solcher Personen hinaus, die unfreiwillig die Befreiungstätigkeit beenden mussten und danach z. B. arbeitslos wurden.

3.  Das LSG Hamburg hat mit Urteil vom 29.10.2019 (BeckRS 2019, 38597) in einem vergleichbaren Fall restriktiver entschieden, aber die Revision zugelassen (anhängig unter 5 RE 9/19 R). Das LSG Baden-Württemberg hat eine Erstreckung abgelehnt, die erst nach Ablauf der 3-Monats-Frist beantragt worden war (BeckRS 2020, 4151).

Redaktion beck-aktuell, 14. April 2020.