LSG Bayern: Rechtsweg im sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis

GVG § 17a; SGB XII §§ 61, 75; SGG § 51

1. Zwischen dem Sozialhilfeempfänger und dem Leistungserbringer besteht ein zivilrechtliches Verhältnis, dass auch durch den Schuldbeitritt des Sozialhilfeträgers nicht seine zivilrechtliche Rechtsnatur verliert.

2. Dem Sozialrechtsweg zugeordnet sind Klagen des Hilfeempfängers gegen den Sozialhilfeträger, die auf (höhere) Vergütung der Leistungserbringung gerichtet sind. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Bayern, Beschluss vom 14.08.2019 - L 1 SV 19/19 B, BeckRS 2019, 20345

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 02/2020 vom 31.01.2020

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Sachverhalt

Streitig ist die Höhe der vom Beklagten und Beschwerdegegner an die A. GmbH für die Unterbringung und Pflege der Klägerin in der Zeit vom 01.07.2015 bis 31.12.2016 zu zahlenden Vergütung, konkret die Differenz zwischen den Pflegesätzen für die sog. Phasen F 1 und die Phasen F 2. Die 1971 geborene Klägerin leidet nach einem Atemstillstand unter einem apallischen Syndrom (Pflegestufe III). Seit Oktober 2010 ist sie in der Einrichtung der A. GmbH untergebracht und bewohnt dort ein Zimmer im Wohnbereich für Bewohner der Phase F. Hierzu wurde zwischen dem Betreuer der Klägerin und der Einrichtung A. GmbH am 04.11.2010 ein „Pflegewohnvertrag für den Bereich Wachkoma …“ geschlossen. Darin wird auf die Pflegesatzvereinbarung mit den Pflegekassen, den Inhalt des Versorgungsvertrages, die Bestimmung in der Pflegesatzvereinbarung, die Regelungen des Rahmenvertrages und das Rahmenkonzept zur Phase F der Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassen und der Bayerischen Bezirke verwiesen, die Vertragsgrundlage seien. Das Bayerische Rahmenkonzept Phase F enthält in der Vorbemerkung eine Differenzierung zwischen einem postrehabilitativen Zeitraum von bis zu zwei Jahren und der Langzeitpflege mit jeweils unterschiedlichen Behandlungsansätzen, ohne diese konkret zu bezeichnen. Zwischen der Einrichtung und dem beklagten Bezirk bestehen für den streitigen Zeitraum außerdem Vergütungsvereinbarungen gem. § 82 SGB XI, § 75 SGB XII. Darin wird hinsichtlich der Tagessätze nach Pflegeklassen differenziert und für Unterkunft und Verpflegung bei F 1 und F 2 jeweils ein zusätzliches Entgelt für Unterkunft und Verpflegung vereinbart. Im Dezember 2010 erging ein Bewilligungsbescheid, wonach Leistungen nach dem SGB XII gewährt werden, soweit sie nicht durch die Leistungen der Pflegeversicherung gedeckt seien. Die Abrechnung erfolgt bis einschließlich 30.06.2015 unter Berücksichtigung des Zuschlags der Phase F 1.

Mit Schreiben vom 01.07.2015 teilte der Beklagte der Einrichtung mit, dass Leistungsberechtigte, die länger als zwei Jahre in der Phase F 1 untergebracht seien, seit 01.07.2015 nur noch Leistungen der Phase F 2 erhielten. Mit Änderungsbescheid vom 01.03.2017 setzte der beklagte Bezirk die Leistungen für die Zeit ab dem 01.01.2017 auf der Grundlage des von der Pflegekasse festgehaltenen Pflegegrades 5 in der Phase F neu fest. Die Leistungen wurden ab diesem Zeitpunkt wieder entsprechend der Pflegesätze für die Phase F 1 abgerechnet.

Die Klägerin beantragte beim SG, den beklagten Bezirk zu verurteilen, die Klägerin von Kosten der vollstationären Pflege der Phase F in Höhe von insgesamt 15.021,40 EUR freizuhalten und ihr ein ebenfalls zu verzinsenden Verzugsschaden zu ersetzen. Die Grunderkrankung und der pflegerische Bedarf seien zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Beklagte habe ungeachtet der im Bescheid vom Dezember 2010 unbefristet erteilten Kostenübernahme an die Einrichtung ab 01.07.2015 nur den Zuschlag der Phase F 2 gezahlt und nicht F 1, dieses ohne den Kostenübernahmebescheid aufzuheben oder zu widerrufen.

Der Beklagte verweist dagegen auf das Rahmenkonzept, wonach die intensivierte Betreuung in der postrehabilitativen Phase zeitlich auf die Dauer von bis zu zwei Jahren begrenzt sei.

Das SG hat mit angefochtenem Beschluss den Sozialrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das LG München verwiesen. Der Träger der Sozialhilfe erbringe die Leistung nicht durch eigene Dienste oder Einrichtungen, sondern indem er die erforderliche Bedarfsdeckung beim Leistungsempfänger dadurch ermögliche, dass er dessen Verpflichtung aus einem Vertrag mit einem Leistungserbringer beitrete (Dreiecksverhältnis). Dabei besteht zwischen dem bedürftigen Hilfeempfänger und dem Sozialhilfeträger ein öffentlich-rechtliches Leistungsverhältnis, das sich nach den Vorschriften des SGB XII beurteile. Der behinderte Mensch hat Anspruch auf „Übernahme“ der dem Leistungserbringer geschuldeten Vergütung. Übernahme bedeutet aber die Schuldübernahme durch Verwaltungsakt mit Drittwirkung in der Form eines Schuldbeitritts. Wenn der Zahlungsanspruch des Leistungsempfängers Folge des Schuldbeitritts ist, teilt er dessen Rechtsnatur. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin. Es gehe allein um sozialhilferechtliche Ansprüche. In diesem Verhältnis bestehe auch der Verschaffungsanspruch gegen den Beklagten. Auch soweit dieser selbst argumentiert, dass es bei der Frage der Vergütung auf den tatsächlichen Bedarf ankommt, geht es nicht um zivilrechtliche Fragen, sondern um den Anspruch aus § 61 SGB XII.

Entscheidung

Das LSG weist die Beschwerde als unbegründet zurück. Das SG hat sich zutreffend für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das örtlich und sachlich zuständige Landgericht verwiesen. Der Rechtsweg zu dem Sozialgericht ist nach § 51SGG nicht eröffnet. Die von der Klägerin geltend gemachte Forderung hat ihre Grundlage nicht im SGB XII, sondern in dem mit der A. GmbH abgeschlossenen Wohn- und Pflegevertrag. Sie möchte mit der Klage erreichen, dass der Beklagte die danach geschuldete Vergütung gegenüber der A. GmbH vollständig übernimmt und sie damit im Verhältnis zu dieser finanziell „freihält“. Nach dem insoweit maßgebenden Sachvortrag der Klägerin handelt es sich hierbei um eine bürgerlich-rechtliche Streitigkeit.

Es besteht kein Grundsatz dahingehend, dass Klagen im Verhältnis zwischen Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeträger immer öffentlich-rechtlicher Natur seien und Klagen im Verhältnis Leistungserbringer und Sozialhilfeträger stets privatrechtlicher Natur. Auch aus der typischen Konstellation des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses folgt nicht zwangsläufig die Zuordnung zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (BSG, BeckRS 2014, 73028). Im vorliegenden Verhältnis des Sozialhilfeempfängers zum Sozialhilfeträger kommt es darauf an, ob es um Fragen der Leistungserbringung geht, wozu im sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis auch der Leistungsverschaffungsanspruch einschließlich der Zahlung an den Leistungserbringer gehört.

Der von der Klägerin geltend gemachte Zahlungsanspruch setzt nach ihrem eigenen Vortrag voraus, dass der Beklagte dem zwischen der Klägerin und der A. GmbH bestehenden zivilrechtlichen Schuldverhältnis beigetreten ist. Aus dem Grundverhältnis könnte die Klägerin gar keinen unmittelbaren Zahlungsanspruch an die Einrichtung herleiten. Das gilt auch für die vorliegende Klage, mit der die Klägerin beantragt, von einer künftigen oder möglichen Forderung freigehalten zu werden und zugleich Verzugsschaden geltend macht. Auch wenn die Klägerin in der Klagebegründung eine nähere Begründung dazu schuldig geblieben ist, auf welche rechtlichen Grundlage der Freihaltungsanspruch zu stützen ist, kann sich dieser nur darauf beziehen, dass die Klägerin befürchtet, in Höhe der streitigen Differenz zwischen den Pflegesätzen der Phasen F 1 und F 2 von der A. GmbH aus dem Pflege-/Wohnvertrag in Anspruch genommen zu werden.

Praxishinweis

1. Der Beschluss ist nicht nur unverständlich, sondern weder in der Begründung noch im Ergebnis überzeugend:

a) Das vom BSG wortreich entwickelte sozialrechtliche Dreiecksverhältnis ist eine Konstruktion, die wechselseitige und unterschiedliche Rechtsbeziehungen beschreibt (so Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 75 Rn. f) – nicht mehr und nicht weniger!

Das Dreiecksverhältnis vermittelt weder Ansprüche noch beseitigt es Ansprüche, sondern es illustriert eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem betroffenen Leistungsempfänger einerseits, dem Sozialhilfeträger als Schuldner von Kosten und Sachleistung und dem Leistungserbringer andererseits. Anspruchsgrundlage kann das Dreiecksverhältnis in keinem Fall sein. Dann aber hilft das Dreiecksverhältnis bei der Bestimmung des Rechtswegs nicht weiter.

b) Die Klägerin hatte einen Vertrag mit der Einrichtung abgeschlossen. Dem Vertrag liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Kosten für ihre Unterbringung – soweit notwendig – vom Sozialhilfeträger übernommen werden. Dieser hat seine Eintrittspflicht durch einen bestandskräftigen Bescheid bestätigt. Folgt man dem Beschluss, war der Bescheid weder befristet noch enthielt er eine Abänderungsklausel, so dass die allgemeine Erwägung des Sozialhilfeträgers, nach zwei Jahren könne der Zuschlag herabgesetzt werden (wohl, weil sich die behinderte Person an die Einrichtung „gewöhnt“ hat), nicht Gegenstand des Bescheides wurde. Die Klage der Klägerin auf „Freistellung“ verlangt nicht mehr und nicht weniger als die Ausführung dieses Bescheides, hilfsweise die Anwendung materiellen Sozialhilferechts. Das aber hat weder was mit dem Zivilrecht zutun, noch mit dem Rechtsinstitut des „Schuldbeitritts“.

c) Man kann sich fragen, ob die Klägerin den Bescheid missverstanden hat oder ob sie anstelle einer Klage die Vollstreckung des Bescheides hätte betreiben müssen. All das hat aber auch mit dem Rechtsweg nichts zu tun.

d) Trifft die Auffassung des beklagten Bezirks zu, wonach dieser – ohne dass der Bescheid dazu sich verhält – nach zwei Jahren den Zuschlag abändern kann, dann nützt der Klägerin die Klage vor dem Zivilgericht nichts: Dass sie möglicherweise einen anderen Vertrag mit der Einrichtung abgeschlossen hat, vermittelt ihr keine Anspruchsgrundlage gegen den Bezirk.

2. Die Eingliederungshilfe ist ab 01.01.2020 neu geregelt in den §§ 90 ff. SGB IX. Das dazu gehörige Vertragsrecht in den §§ 123 ff. SGB IX entspricht weitgehend dem des SGB XII (vgl. Boetticher, Das neue Teilhaberecht, 2018, § 3 Rn. 352 ff und ausführlich Diehm, Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes auf das sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis, ZFSH/SGB 2018, 71 ff.). Danach wird die sozialrechtliche Prägung noch zunehmen, da der Vergütungsanspruch des Leistungserbringers noch deutlicher mit der bewilligten Leistung verknüpft wird. Allerdings bleibt es dabei, dass der Umfang der Leistung und damit auch die Höhe der Vergütung Gegenstand eines Streites zwischen Leistungsempfänger und Kostenträger ist. Dafür war und ist der Sozialrechtsweg gem. § 51 SGG gegeben.

3. Nach dem OLG München vom 05.12.2019 (BeckRS 2019, 31194) sind die Grundsätze über das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis und den Schuldbeitritt auch auf das Verhältnis öffentlicher Jugendhilfeträger/freier Träger anzuwenden. Daraus kann der öffentliche Jugendhilfeträger aber keine Schadensersatzansprüche herleiten, die auf eine Abweichung des tatsächlichen Personaleinsatzes von den in der Leistungs- und Entgeltvereinbarung nach § 78b SGB VIII festgelegten Personalschlüsseln und/oder Qualifikationen gestützt werden. § 79 SGB XII i.d.F. durch das BTHG bestimmt ab 01.01.2020, dass der Sozialhilfeträger die Vergütung „für die Dauer der Pflichtverletzung entsprechend zu kürzen“ hat. Eine ähnliche Regelung enthalten § 115 Abs. 3 SGB XI für den Bereich der Pflegeversicherung und § 129 SGB IX für die Leistungen zur Teilhabe. Auch über solche Kürzungen wird vor dem SG gestritten.

Redaktion beck-aktuell, 3. Februar 2020.