BGH: Haftung für nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge – hier: Vorsatz

StGB § 266a; BGB § 823; SGB IV § 7

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat.

2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegen stehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschluss vom 24.09.2019 - 1 StR 346/18, BeckRS 2019, 25987

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2020 vom 17.01.2020

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Sachverhalt

Der Angeklagte vermittelte in den Jahren 2008 bis 2014 über ein Einzelunternehmen osteuropäische Pflegekräfte an Privathaushalte in Deutschland. Die meist ungelernten Pflegekräfte warb er in deren Heimatländern an, sorgte für ihre Reise nach Deutschland, brachte sie zu den Familien, gab diesen praktische Tipps für die Beschäftigung, sicherte den Familien zu, im Bedarfsfall für eine Ersatzkraft zu sorgen und gewährleistete eine Absicherung für die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen durch die Pflegekräfte. Hierfür erhob der Angeklagte bei der jeweiligen Familie eine einmalige Vermittlungsgebühr in Höhe von in der Regel 285 Euro sowie monatliche Kostenpauschalen. Von der Monatspauschale sollten jeweils 30 Euro für eine Krankenversicherung verwendet werden; soweit anderweitig Versicherungsschutz bestand, reduzierte sich die Pauschale um diesen Betrag.

Für die Vermittlung schloss der Angeklagte jeweils einen Formularvertrag mit der zu pflegenden Person oder, wenn diese hierzu – wie meist – nicht mehr in der Lage war, mit einem ihrer Angehörigen ab. Gem. Vertrag sollte die jeweilige Pflegekraft 10 – 12 Stunden vor Ort tätig sein; dieser Zeitraum wurde jedoch mitunter erheblich überschritten. Die genaue Dauer des einzelnen Arbeitseinsatzes der Pflegekraft war zumeist nicht im Vorhinein festgelegt, sondern wurde im Verlauf der Pflegetätigkeit einvernehmlich zwischen der Pflegekraft und dem Verantwortlichen auf Seiten der zu pflegenden Person bestimmt. Nach Ablauf des Pflegezeitraums kehren die Pflegekräfte in der Regel in ihr Heimatland zurück. Über die bevorstehende Abreise wurde der Angeklagte im Vorfeld informiert, der dann bei Bedarf für eine andere Pflegekraft sorgte.

Mitunter kamen einzelne Pflegekräfte wiederholt zu bestimmten Familien oder es wechselten sich wenige Pflegekräfte bei der Versorgung ab. Die von der jeweiligen Pflegekraft konkret zu erbringende Tätigkeit wurde von der zu pflegenden Person bestimmt, andernfalls von einem oder mehreren Angehörigen des Pflegebedürftigen. Die Aufgaben der Pflegekräfte bestanden in der Regel in der Beaufsichtigung und Versorgung der zu pflegenden Person, einfachen pflegerischen Tätigkeiten sowie der Haushaltsführung. Diverse Kräfte mussten dabei rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Pflegekräfte bei den zu pflegenden Personen abhängig beschäftigt waren. Die Beurteilung, wer im Einzelfall auf Seiten der zu pflegenden Person die Arbeitgeberstellung einnahm, hat die Strafkammer dabei im Wesentlichen davon abhängig gemacht, wer die Pflegekraft bezahlte, wer über deren Auswechslung oder Wiederkehr entschied, wie der geistige Zustand der zu pflegenden Person war und wer die Vereinbarung mit dem Angeklagten getroffen hat. Die Pflegekräfte sind nicht zur Sozialversicherung angemeldet worden. Das Landgericht verurteilt den Angeklagten gemäß § 266a StGB wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 82 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Dagegen richtet sich seine Revision.

Entscheidung

Auf die Revision hebt der BGH das Urteil des Landgerichts auf und verweist die Sache an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des gleichen Gerichts.

1. Wie bereits im Beschluss vom 24.01.2018 angedeutet (FD-SozVR 2018, 405130) ist vorsätzliches Handeln als Voraussetzung für eine Bestrafung gem. § 266a StGB nur dann anzunehmen, wenn der Täter über die Kenntnis der insoweit maßgeblichen tatsächlichen Umstände hinaus auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat. Der Täter muss danach seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen haben. Demgemäß ist eine Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft in § 266a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht als Tatbestandsirrtum i.S.v. § 16 Abs. 1 StGB einzuordnen. Dies entspricht der Rechtsprechung des BGH zu Vorsatz und Irrtumsproblematik bei der Steuerhinterziehung, wonach zum Vorsatz der Steuerhinterziehung gehört, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennt oder zumindest für möglich hält und ihn auch verkürzen will. Eine sichere Kenntnis des Steueranspruchs setzt der Hinterziehungsvorsatz nicht voraus. Es besteht kein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung was die Arbeitgeberstellung i.S.d. § 266a StGB einerseits und die Pflichtenstellung i.S.d. § 370 Abs. 1 AO andererseits anlangt.

2. Ob eine Person Arbeitgeber ist, richtet sich nach dem Sozialversicherungsrecht. Der Beurteilung, die aufgrund einer Vielzahl von Kriterien zu erfolgen hat (u.a. das Maß der Eingliederung des die Dienste Leistenden in den Betrieb, das Bestehen eines Direktionsrechts bezüglich Zeit, Dauer, Ort und Ausführung der Dienstleistung, das Vorliegen eines eigenen unternehmerischen Risikos des die Dienste Leistenden), kann eine komplexe Wertung zugrunde liegen, wobei sich die Ergebnisse, da die Kriterien im Einzelfall unterschiedliches Gewicht haben können, nicht immer sicher voraussehen lassen. Ob ein Arbeitgeber seine sozialversicherungsrechtlichen Abführungspflichten für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, muss vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall geklärt werden. Jedenfalls bei Kaufleuten, die als Arbeitgeber zu qualifizieren sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Situation in den Blick zu nehmen, weil eine Verletzung seiner Erkundigungspflicht auf die Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeuten kann.

3. In den übrigen Fällen hat das LG die nicht abgeführten Sozialabgaben jedenfalls teilweise unzutreffend ermittelt. Das LG hätte die Sachbezugswerte für die freie Unterkunft nicht im Rahmen der zugrunde gelegten Nettoentgelte berücksichtigen dürfen. Zum anderen hätte das LG bei der Hochrechnung auf die Bruttolöhne nicht pauschal von der Lohnsteuerklasse VI ausgehen dürfen. Die vorgenommene Hochrechnung ist auch nicht nachvollziehbar.

Praxishinweis

1. Man darf die Entscheidung des BGH nicht missverstehen: Der BGH hat den Schuldspruch nur hinsichtlich ganz bestimmter Fälle aufgehoben. Der BGH betont, dass nach wie vor bedingter Vorsatz ausreicht, es also nach wie vor zur Strafbarkeit nach § 266a StGB kommt, soweit ein Auftraggeber Freelancer beauftragt, ohne sich Gedanken über deren Status zu machen. Wer die Augen verschließt vor dem Problem der Scheinselbständigkeit, haftet auch in Zukunft.

2. Pflegekräfte aus Osteuropa waren und sind ein Problem: Soweit im Heimatland wirksamer Sozialversicherungsschutz auch für die Entsendung nach Deutschland durch eine A1-Bescheinigung bestätigt wird, entfällt die Versicherungspflicht hier. Nach neuerer Rechtsprechung des EuGH kommen aber „Ketten-Entsendungen“ nicht in Betracht, d. h. die aus einem EU-Mitgliedstaat stammende Pflegekraft kann nur einmal zu einem bestimmten Pflegebedürftigen entsandt werden und nicht regelmäßig, nämlich abwechselnd mit einer anderen Kraft.

3. Der Beschluss befasst sich sorgfältig auch mit der Frage, wie der Schaden zu berechnen ist. In der Praxis werden immer wieder mit missionarischem Eifer Hochrechnungen vorgenommen, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten, z. B. soweit neben verbeitragtem Lohn noch Barzahlungen erfolgten, die im Nachhinein zu verbeitragen sind.

4. Tatsächlich verdeckt die Entscheidung einen Skandal: Offensichtlich konnte man bei den Familien, in denen die Pflegekräfte tätig wurden, keine Beiträge anfordern. Warum eigentlich nicht? Weil das Geschäftsmodell hochsensibel ist und die Bevölkerung kein Verständnis dafür hat, dass mit Hilfe des Hauptzollamtes im Privatbereich nach Schwarzarbeit gesucht wird. Deshalb hält man sich über den Umweg der Beihilfe an die Vermittler, denen die Familien mit schwerpflegebedürftigen Personen höchst dankbar sind. Dankbar, weil in der näheren Umgebung sich nicht ausreichend Pflegepersonen finden lassen, die diese Arbeit übernehmen.

Die – inländischen! – Pflegepersonen (i.S. § 19 SGB XI) sind zudem von Gesetzes wegen beitragsfrei renten-, arbeitslosen- und unfallversichert, § 44 SGB XI. Eigentlich müsste man darüber nachdenken, ob nicht die Bestrafung des Vermittlers – jedenfalls mittelbar – eine Diskriminierung darstellt, weil sie typischerweise osteuropäische Kräfte betrifft. Die strafrechtliche Ahnung in der Person des Vermittlers ist eines modernen Sozialstaates nicht würdig.

Redaktion beck-aktuell, 17. Januar 2020.