LSG Nordrhein-Westfalen: Kein Rentenanspruch beim Fibromyalgie-Syndrom

SGB VI § 43; SGG §§ 103, 106

1. Ein Fibromyalgie-Syndrom mit großflächiger Schmerzchronifizierung, vegetativer Zusatzsymptomatik und Minderbelastbarkeit des Bewegungs- und Halteapparates indiziert nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, wie er sich aus der Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (Stand: 2017) ergibt, nicht unbedingt eine teilweise oder volle Erwerbsminderung i.S.d. § 43 SGB VI.

2. Ein zur Begutachtung von Fibromyalgie zu bestellender Sachverständiger sollte „fachübergreifende“ Erfahrungen hinsichtlich der Diagnostik und der Beurteilung dieses Krankheitsbildes haben, unabhängig davon, ob er über eine abgeschlossene Weiterbildung als Internist, Rheumatologe, Orthopäde, Neurologe oder Psychiater verfügt.

3. Nach der Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen ist bei Schmerzerkrankungen neben einer humanmedizinischen Begutachtung eine psychiatrische Begutachtung geboten.

4. Um die für den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung erforderlichen Funktionseinschränkungen einschätzen zu können, bedarf es medizinischen Sachverstandes. Die Zeugeneinvernahme des Ehegatten ist regelmäßig kein dazu geeignetes Beweismittel. (Leitsätze des Verfassers)

LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.05.2019 - L 8 R 350/17, BeckRS 2019, 16295

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 20/2019 vom 11.10.2019

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Sachverhalt

Die 1969 geborene Klägerin hat den Beruf der Arzthelferin erlernt und zuletzt ausgeübt. 2014 unterzog sie sich einer stationären Reha-Maßnahme, aus der sie mit den Diagnosen Fibromyalgie-Syndrom, chronisches Schmerzsyndrom mit Verdacht auf eine Anpassungsstörung arbeitsunfähig entlassen wurde. Sie sei aber noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mehr als sechs Stunden täglich zu verrichten. Den Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung wies die Beklagte nach Einholung weiterer Befundberichte und eines neurologischen Gutachtens zurück. Im Widerspruchsverfahren wurden weitere Unterlagen der behandelnden Ärzte eingeholt.

Gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht, welches ein Gutachten durch den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. O einholte. Dieser bestätigte ebenfalls ein Leistungsvermögen von sechs Stunden täglich. Gegen das klagabweisende Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, die über die anhaltenden Schmerzen aufgrund des Fibromyalgie-Syndroms klagt. Wegen dieser Schmerzen sei sie nicht in der Lage, irgendeine Arbeitstätigkeit von mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten – unabhängig davon, dass diese Erkrankung die Beweglichkeit ihrer Gelenke nicht wesentlich einschränkt. Das LSG hat erneut ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt, welches unter Berücksichtigung des Zusatzgutachtens einer Fachärztin für Orthopädie und Rheumatologie erstellt wurde.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück. Es geht davon aus, dass bei der Klägerin ein Fibromyalgie-Syndrom mit großflächiger Schmerzchronifizierung sowie einer vegetativen Zusatzsymptomatik und Minderbelastbarkeit des Bewegungs- und Halteapparates vorliegt. Die Ausstrahlung der Schmerzen von der Brust- und Lendenwirbelsäule verursache jedoch keine klinisch erfassbaren nervenbedingten Ausfälle. Hinzu kommt eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine im Alltag weitgehend kompensierte Panikstörung. Das LSG bezieht sich dazu auf das umfangreiche Sachverständigengutachten, welches es selbst in Auftrag gegeben hat und welches die Vorgutachten im Wesentlichen bestätigt.

Der Einwand der Klägerin, zur Beurteilung des Fibromyalgie-Syndroms hätte ein einziger Gutachter bestellt werden müssen mit fachübergreifenden, dieses Krankheitsbild betreffenden Erfahrungen, geht fehl. Auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des BSG vom 09.04.2003 (BeckRS 2003 30414454) reicht es aus, wenn zur Beurteilung dieser Erkrankung ein Zusatzgutachten erstellt wird von einer entsprechend qualifizierten Gutachtens-Person. Das hier von einem Neurologen-Psychiater mit Zusatzgutachten einer Fachärztin für Orthopädie und Rheumatologie eingeholte Gutachten entspricht auch den Anforderungen des § 407a Abs. 1 ZPO, wonach der Sachverständige sein Gutachten nur innerhalb seines Fachgebiets erstatten darf.

Der weitere Einwand der Klägerin, die Gutachter hätten zu Unrecht ihre Beurteilung auf die Ergebnisse eines Funktionsfragebogens Hannover gestützt, überzeugt nicht. Es könne – so das LSG – dahingestellt bleiben, ob der Fragebogen zur Diagnostik oder Therapieplanung der Fibromyalgie leitliniengerecht einzusetzen ist. Jenseits dessen war es Aufgabe der Sachverständigen, schmerzbedingte Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen und ggf. Diskrepanzen zwischen vorgetragenem subjektivem Schmerzerleben und erhaltener Funktionalität festzustellen. Hierzu ist, wie die Sachverständige erläutert hat, der Fragebogen als orientierendes strukturelles diagnostisches Instrument entwickelt und von ihr eingesetzt worden.

Der Senat hat sich nicht gedrängt gesehen, den Ehemann der Klägerin als präsenten Zeugen zu vernehmen. Der Senat hat auch nach seinem persönlichen Eindruck von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung keine Bedenken, zu ihren Gunsten zu unterstellen, dass sie ihre subjektiv empfundenen Beschwerden und Leistungsbeeinträchtigungen auch im häuslichen und familiären Bereich nachdrücklich darzustellen vermag.

Abschließend befasst sich der Senat mit der Frage, ob die qualitativen Leistungseinschränkungen so massiv sind, dass sich daraus eine Verschlossenheit des Arbeitsmarkts ergibt. Zwar kann die Klägerin nicht mehr Lasten tragen, jedoch ist ihre durchschnittliche Umstellungsfähigkeit ausreichend, um eine ungelernte Tätigkeit innerhalb von drei Monaten auszuüben. Sie sei noch in der Lage, ohne zeitliche Einschränkungen körperliche leichte Arbeiten, wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken oder Zusammensetzen von Teilen, zu verrichten. Nur dann, wenn hier ernste Zweifel bestünden, sei weiter zu bewerten, ob eine sog. „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen“ oder eine „schwere spezifische Leistungsbehinderung“ vorliegt.

Praxishinweis

1. Fibromyalgie war und ist keine Diagnose, die teilweise oder volle Erwerbsminderung zur Folge hat – auch dann, wenn aus subjektiver Sicht für den Betroffenen diese Erkrankung eine schwere, ständige Aufmerksamkeit in Anspruch nehmende, Belastung darstellt. Dies zu beurteilen ist Aufgabe einer fachübergreifenden Begutachtung, an der einerseits Rheumatologen/Orthopäden und andererseits Neurologen/Psychiater mitwirken.

2. Es gibt tatsächlich Fälle, in denen Personen aus dem häuslichen Umfeld den Vortrag des Rentenbewerbers darüber bestätigen können, dass krankheitsbedingt auch im Privatbereich das Leistungsspektrum nachhaltig eingeschränkt ist. Dies sollte aber auch Gegenstand der fachmedizinischen Begutachtung sein.

3. Mit Urteil vom 26.02.2019 hat das LSG Hessen in einem Berufungsverfahren die DRV zur Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung verurteilt (BeckRS 2019, 16475). Hier ging es um einen 1966 geborenen Kläger ohne abgeschlossene Berufsausbildung, der zuletzt 2008 als Lagerist und Staplerfahrer tätig war und dabei einen Arbeitsunfall erlitten hat (MdE 30). Das LSG verurteilt die DRV zur Rentengewährung ab März 2017, d. h. in dem Zeitpunkt, in dem der vom LSG beauftragt neurologisch-psychiatrische Gutachter den Kläger untersucht hatte und dem Kläger bestätigte, er sei jedenfalls ab dem Zeitpunkt seiner Untersuchung nur noch unter drei Stunden täglich leistungsfähig wegen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, einer Opiat-Abhängigkeit und dem Zustand nach LWK 1-Fraktur. Das LSG bezieht diese, die Erwerbsminderung auslösende Leistungseinschränkung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch auf den Arbeitsunfall, so dass die Beurteilung zur Leistung ab März 2017 nicht an der fehlenden Vorversicherungszeit gem. § 43 SGB VI scheitert. Denn die die Erwerbsminderung auslösenden Behinderungen sind „wegen“ des Arbeitsunfalls i.S.d. § 53 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI eingetreten, so dass es nach § 43 Abs. 5 SGB VI auf die fehlende Vorversicherungszeit von drei versicherungspflichtigen Jahren innerhalb der letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht ankommt.

4. Die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit durch das LSG Nordrhein-Westfalen entspricht, was die Fibromyalgie anlangt, wohl einer aktuell „herrschenden Meinung“, jedenfalls einer weitverbreiteten Praxis. Das LSG verweist die dortige Klägerin, die den Beruf als Arzthelferin erlernt und ausgeübt hat, auf leichte Tätigkeiten, die gekennzeichnet seien durch das „Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken oder Zusammensetzen von Teilen“. Diese Formulierung stammt aus einer jahrzehntelang zurückliegenden Rechtsprechung und trägt den aktuellen Verhältnissen am Arbeitsmarkt in keiner Weise mehr Rechnung. Darauf verweist unter anderem das SG Nordhausen in seinem Urteil vom 07.03.2019 (FD-SozVR 2019, 417871 m. Anm. Plagemann).

Der 13. Senat des BSG hat zu dieser Frage, wie nämlich die „üblichen Bedingungen des Allgemeinen Arbeitsmarktes“ i.S.d. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI heute zu beurteilen sind, Expertisen eingeholt und dazu von den Parteien Stellungnahmen angefordert (vgl. Beschluss des 13. Senats des BSG vom 16.05.19 – B 13 R 7/18 R, Vertagung, um den Beteiligten Gelegenheit zur Wahrnehmung ihres rechtlichen Gehörs zu geben).

Redaktion beck-aktuell, 11. Oktober 2019.