LSG Hessen: Notarzt ist selbständig

SGB IV §§ 7, 7a, 23c; HRDG § 7

1. Besteht zwischen Auftraggeber und Aufnehmer keine Dauerbeziehung, sondern wird der Auftragnehmer auf der Grundlage von Einzelaufträgen für den Auftraggeber tätig, sind nur diese zu bewerten. Für den versicherungsrechtlichen Status ist allein auf den jeweiligen Einzelauftrag abzustellen.

2. Für die Selbständigkeit des Notarztes spricht, dass er bei den Entscheidungen über Diagnose und Therapie unabhängig handelt und nur dem Gesetz verpflichtet ist.

3. Soweit sich aus den gesetzlichen Vorgaben des Rettungsdienstgesetzes ergibt, dass die Einsätze von zentralen Leitstellen gelenkt werden, begründet dies nicht eine arbeitsvertragliche Weisungsgebundenheit. (Leitsätze des Verfassers)

LSG Hessen, Urteil vom 11.04.2019 - L 8 KR 487/17, BeckRS 2019, 11015

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 14/2019 vom 19.07.2019

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Sachverhalt

Der Beigeladene ist seit August 2016 als Notarzt für den klagenden Landkreis tätig. Der klagende Landkreis ist öffentlich-rechtlicher Träger des bodengebundenen Rettungsdienstes einschließlich der notärztlichen Versorgung gemäß dem Hessischen Rettungsdienstgesetz (HRDG). Kläger und Beigeladener haben eine Honorarvereinbarung geschlossen, wonach der Beigeladene Bereitschaftsdienste für die notärztliche Versorgung im Rettungsdienstbereich Fulda mittels bodengebundenem Notarztsystem übernimmt. Der Notarzt ist in seiner Verantwortung in Diagnostik und Therapie unabhängig und nur dem Gesetz verpflichtet. Der Notarzt ist freiberuflich tätig und ist nicht in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingebunden. Er unterwirft sich keinen einseitigen Weisungen des Auftraggebers. Der Beigeladene teilt per E-Mail dem Dienstplankoordinator mit, welche Dienste er zu übernehmen bereit ist. Der Auftraggeber entscheidet im Rahmen der vom Notarzt angebotenen Termine, zu welchen Diensten er ihn bestellt, und teilt ihm dies per E-Mail spätestens fünf Tage vor dem Termin mit. Aus dem Abschluss des Vertrages erwächst kein Anspruch des Notarztes gegen den Auftraggeber auf Bestellung der von ihm angebotenen Dienste und kein Anspruch des Auftraggebers, dass der Notarzt bestimmte Diensttermine anbietet. Der Stundensatz beträgt brutto 35 Euro. Die Beklagte DRV Bund gelangt im Rahmen eines Antragsverfahrens nach § 7a SGB IV zu dem Ergebnis, der Beigeladene habe seine Tätigkeit als Notarzt in Form einer abhängigen Beschäftigung ausgeübt; er müsse die Leistung persönlich erbringen. Die Tätigkeit werde in einer fremdbestimmten Arbeitsorganisation ausgeübt. Die Eingliederung in die Organisation des Rettungsdienstes ergebe sich insbesondere aus dem HRDG und den darin enthaltenen Bestimmungen zur Anwesenheit des Notarztes auf der Rettungswache. Widerspruch und Klage dagegen waren erfolglos. Das SG schließt sich weitgehend der Auffassung der beklagten DRV Bund an. Dass der Beigeladene im Rahmen seiner Therapiefreiheit selbständig eine Diagnose stelle und über das weitere Verfahren entscheide, ohne dass der Kläger darauf Einfluss nehmen kann, sei bei Tätigkeiten mit höherer fachlicher Qualifikation üblich. Vorgegeben sei der Bereitschaftsort Fulda. Der Beigeladene sei zudem an den Ausrückalarm und den Einsatzort gebunden. Dagegen richtet sich die Berufung des klagenden Landkreises.

Entscheidung

Das LSG gibt der Berufung vollumfänglich statt und hebt den angefochtenen Bescheid auf. Der Beigeladene habe die von ihm übernommenen Einsätze als Selbständiger durchgeführt und dabei nicht in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Das LSG betont, dass es für die Überprüfung auf die Einzelaufträge ankommt und nicht auf den Rahmenvertrag, da sich aus dem Rahmenvertrag keinerlei Dienstverpflichtung ergibt. Diese kommt erst dann zustande, wenn der Beigeladene per E-Mail mitgeteilt hat, einen Dienst zu übernehmen. Schon die vertraglichen Regelungen sprechen für die Selbständigkeit und nicht für eine abhängige Beschäftigung. Die Terminierung der einzelnen Aufträge erfolge einvernehmlich.

Auch die tatsächliche Durchführung lässt nicht auf eine Eingliederung in den Betrieb des Landkreises schließen. Es fehlt an fachlichen Weisungen. Soweit es in § 2 Abs. 2 des Honorarvertrages heißt, dass der Notarzt im Einsatzgeschehen an die Weisungen des leitenden Notarztes gebunden ist, handelt es sich hierbei ausschließlich um sogenannte „Großschadensereignisse", die nicht nur sehr selten vorkommen, sondern bei denen das Zusammenwirken mehrerer Rettungsdienste erforderlich ist. Die Regelungen des HRDG dienen im Übrigen der Gefahrenabwehr und der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und sind integraler Bestandteil eines umfassenden Bevölkerungsschutzes. Diese Normen zur Organisation des Rettungsdienstes sind als solche nicht geeignet, eine arbeitsvertragliche Weisungsbefugnis zu begründen. Auch die im Gesetz verlangte Anwesenheit des Notarztes auf der Rettungswache (§ 3 Abs. 8 HRDG) und seine Fortbildungspflicht reichen nicht hin, um hier eine Eingliederung in den Betrieb des Klägers i.S.d. § 7 SGB IV zu begründen.

Praxishinweise

1. Das BSG hat mit Urteilen vom 04.06.2019 für den Fall der Honorarärzte auf Beschäftigung erkannt. Dies im Wesentlichen mit der Begründung, dass die Honorarärzte in den Klinikbetrieb wie Beschäftigte „eingegliedert" sind, so dass nach § 7 SGB IV hier von einer Beschäftigung auszugehen ist. Eine solche Eingliederung verneint das LSG Hessen für den Fall des Notarztes, ebenso SG Duisburg vom 21.03.2019 – S 21 R 66/17 – und LSG Nordrhein-Westfalen vom 08.02.2017 – L 8 R 162/15.

2. Das LSG Hessen hat die Revision zugelassen. Das Bundessozialgericht muss sich nun mit der Frage befassen, ob auch bei dezentraler Tätigkeit, also nicht nur einer Tätigkeit des Notarztes im Einsatz, sondern auch im Falle eines Palliativmediziners (dazu LSG München vom 11.04.2019 – L 7 R 5050/17) die vom Gesetz in § 7 SGB IV geforderte „Eingliederung" fehlt. Das SG Kassel hatte mit Urteil vom 24.01.2018 – S 12 R 390/17 – für den Fall des Arztes in einem Palliativteam die Eingliederung daraus hergeleitet, dass der einzelne Arzt innerhalb eines Versorgungskonzeptes tätig wird und daraus eine „überragende institutionelle Einbindung auch hinsichtlich ihrer therapeutischen Orientierung" folge.

Redaktion beck-aktuell, 23. Juli 2019.