LSG Baden-Württemberg: Rentenabschlag für vorgezogene Altersrente Schwerbehinderter verfassungsgemäß

SGB VI §§ 63, 64, 77, 236a; GG Art. 3, 14

Die Kürzung des Zugangsfaktors für eine vorgezogene Altersrente hier: für schwerbehinderte Menschen ist nicht deshalb verfassungswidrig geworden, weil der Gesetzgeber durch das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) weitere Leistungen eingeführt hat und die Kürzung des Zugangsfaktors zur Sicherung der Finanzierungsgrundlagen diente. (Leitsatz des Gerichts)

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.10.2018 - L 10 R 690/17, BeckRS 2018, 35391

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 06/2019 vom 29.03.2019

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Sachverhalt

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer höheren Altersrente für behinderte Menschen auf der Grundlage eines Zugangsfaktors von 1,0. Die 1952 geborene Klägerin ist seit Dezember 2010 anerkannte Schwerbehinderte und beantragte 2013 Rente. Mit angefochtenem Bescheid bewilligte die beklagte DRV der Klägerin eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen rückwirkend ab 01.07.2013 in Höhe von monatlich 570 Euro. Dabei legte sie der Rentenberechnung 22,74 Entgeltpunkte zugrunde. Hieraus errechnete sie unter Berücksichtigung eines auf 0,892 verringerten Zugangsfaktors 20,2737 persönliche Entgeltpunkte. Die Kürzung des Zugangsfaktors begründete sie mit der um 36 Kalendermonate vorgezogenen Inanspruchnahme der Rente.

Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Die Entscheidungen des BVerfG vom 11.01.2011 und vom 11.11.2008 hätten zwar für die Vergangenheit die Verfassungsmäßigkeit des Rentenabschlags bestätigt, nämlich um die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung zu vermindern und deren Finanzierungsgrundlagen sicherzustellen. Mit dem RV-Leistungsverbesserungsgesetz sei nachträglich ein Mehrausgabengesetz für die gesetzliche Rentenversicherung verabschiedet worden. Die sich aus diesem Reformgesetz ergebenden zusätzlichen Kosten beweisen, dass die Sicherung der Finanzierungsgrundlagen jedenfalls seit 2014 vollumfänglich erreicht ist. Mithin entfalle der für die Kürzung des Zugangsfaktors tragende Rechtfertigungsgrund der Sicherung der Finanzierungsgrundlagen, sodass ab diesem Zeitpunkt verfassungswidrig in eigentumsgeschützte Anwartschaften nach Art. 14 GG eingegriffen werde.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück (ohne die Revision zuzulassen). Rechtsgrundlage des Begehrens der Klägerin auf höhere Altersrente sind die Regelungen der §§ 63 ff. SGB VI über die Rentenhöhe. Der Zugangsfaktor ist dabei ein Berechnungselement. Gem. § 77 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist zu vermindern bei Renten wegen Alters, die vorzeitig in Anspruch genommen wurden. Die Klägerin habe – unstreitig – die Altersrente für Schwerbehinderte gem. § 236a SGB VI vorzeitig in Anspruch genommen. Die nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a SGB VI vorzunehmende Kürzung des Zugangsfaktors begegne keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies folge aus der Entscheidung des BVerfG vom 11.11.2008 – 1 BvR 3/05, bestätigt durch den weiteren Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3588/08. Im Falle der Klägerin verstoße die Kürzung des Zugangsfaktors auch nicht gegen Art. 14 GG. Dazu sei zunächst auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hinzuweisen, vor allem aber auf dessen Ziel, angemessen – durch finanzielle Einschnitte über die Absenkung des Zugangsfaktors – der mit der Frühverrentung einhergehenden längeren Rentenzahlungsbelastung entgegenzusteuern. Damit sollte – neben der Eindämmung der Flucht in die Frührente – Kostenneutralität für die mit längeren Rentenbezugszeiten einhergehenden vorzeitigen Rentenleistungen erzielt und letztlich der mit dem vorzeitigen Rentenbezug entstehende Leistungsvorteil ausgeglichen werden. Diese auf Vorteilsausgleich ausgerichtete gesetzgeberische Intension habe das BVerfG auch ausdrücklich als legitim angesehen (Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3588/08). Personen, die tatsächlich früher Rente beziehen, werden mit den von ihnen selbst verursachten Mehrkosten – versuchsmathematisch pauschaliert – belastet. Die Höhe der pauschalierten Mehrkosten über die Festlegung eines um 0,003 abgesenkten Zugangsfaktors für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente habe das Gericht als verfassungskonform erachtet. An dieser gesetzgeberisch gewollten verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Vorteils-Ausgleichs-Konzeption habe die Einführung des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes nichts geändert. Wie bisher würden Versicherte, die eine Altersrente vorzeitig in Anspruch nehmen, davon durch längere Rentenbezugszeiten profitieren und die dadurch entstehenden Mehrkosten durch den verminderten Zugangsfaktor über die gesamte Rentenlaufzeit pauschal mitfinanzieren.

Praxishinweise

1. Der „Rentenabschlag“ für die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente ebenso wie der Rente wegen Erwerbsminderung war Teil des Rentenreformgesetzes 1992. Seitdem ist die Lebenserwartung signifikant angestiegen, sodass die Klägerin im vorliegenden Fall in Summe längerfristig einen Rentenabschlag hinnimmt, der auf Seiten der Solidargemeinschaft einem höheren Vorteil entspricht. Man kann sich durchaus fragen, ob die vom BVerfG und dem LSG für akzeptabel erachtete versicherungsmathematische Pauschalierung noch den Realitäten entspricht.

2. Die Klägerin hat die Altersrente wegen Schwerbehinderung in Anspruch genommen ab dem 60. Lebensjahr plus sechs Monate, also in der Tat 36 Monate vor dem „regelmäßigen Beginn“ der Altersrente wegen Schwerbehinderung gem. § 236a SGB VI. Künftig beginnt die Rente wegen Alters für schwerbehinderte Menschen erst ab dem 65. Lebensjahr und kann ggf. vorzeitig ab dem 62. Lebensjahr in Anspruch genommen werden, § 37 SGB VI. Es bleibt also für diesen Personenkreis bei einem Abschlag von 0,108, was im Falle der Klägerin rund 2,5 Entgeltpunkte ausmachte und aktuell einem monatlichen Defizit von rund 80 Euro entspricht. Die Klägerin hat zwar die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt, offensichtlich aber unterdurchschnittliche Arbeitsentgelte erzielt. Bedenkt man, dass derzeit über eine Aufstockung geringer Renten diskutiert wird, die an Personen mit mindestens 35 Beitragsjahren gezahlt werden, ist die Kritik der Klägerin keineswegs von der Hand zu weisen. Jabben/Kolakowski/Kreikebohm (NZS 2017, 481) problematisieren die Verkürzung der Rente wegen des Zugangsfaktors, soweit es um Renten wegen Erwerbsminderung vor dem 63. Lebensjahr geht. Sie bezeichnen die Begründung für diese Regelung als „zumindest zweifelhaft“, weil die Versicherten den Eintritt der Erwerbsminderung nicht selbst steuern können.

3. Vgl. auch: BSG vom 19.10.2017 – B 13 R 140/14, NZS 2018, 34. Die dortige Klägerin beanstandet den Abschlag auf das ihr gewährte „Frauen-Altersruhegeld“ gem. § 237a SGB VI unter Bezug auf VO (EG) 883/2004 und die Europäische Menschenrechtskonvention, was aber kein Gehör fand.

4. Mit Urteil vom 12.03.2019 – B 13 R 5/17R hat der Senat erneut zum Abschlag vorgezogener Renten Stellung genommen und das Konzept des Gesetzes – auch noch den jüngst verabschiedeten Leistungsverbesserungen – als verfassungskonform akzeptiert.

Redaktion beck-aktuell, 4. April 2019.

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