LSG Bayern: Widerlegung der Vermutung einer Versorgungsehe

SGB VI § 46 IIa; SGB VII § 65 VI

1. Gehen die Eheleute oder einer der Ehegatten davon aus, dass beide Ehegatten nach Eheschließung noch mehrere Jahre leben, obwohl einer der Ehegatten bereits schwer erkrankt ist, ergibt sich daraus kein „besonderer Umstand“, der gegen die gesetzliche Annahme einer Versorgungsehe spricht.

2. Der Umstand, dass die lange Dauer des Zusammenlebens durch die Eheschließung „gekrönt“ werden sollte, widerlegt ebenfalls nicht die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe, sofern einer der Partner innerhalb der Jahresfrist nach Eheschließung verstorben ist.

3. Die vermutete Versorgungsabsicht ist nicht bereits dann zwingend widerlegt, wenn einer der Ehegatten, insbesondere Hinterbliebene, nicht überwiegend den Zweck verfolgt hat, der Witwe oder dem Witwer eine Versorgung zu verschaffen. (Leitsätze des Verfassers)

LSG Bayern, Urteil vom 04.09.2018 - L 19 R 2/17, BeckRS 2018, 22681

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2019 vom 18.01.2019

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Sachverhalt

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger einen Anspruch auf Witwerrente aus der Versicherung seiner verstorbenen Ehefrau hat. Die Eheleute, beide geboren 1951, lebten seit 1989 zusammen. Der Kläger bezieht seit 2011 Altersrente; die Versicherte war zuletzt als Arzthelferin tätig. Im September 2011 wurde bei ihr ein Karzinom der linken Mammae diagnostiziert. Es erfolgte 2012 eine Chemotherapie und Operation. Im Februar 2014 wurden Metastasen und ein Karzinom der linken Niere festgestellt. Es erfolgten Operation und stationäre Behandlung. Seit Juli 2014 hat der Kläger die Versicherte gepflegt (Pflegestufe 2). Es erfolgte eine palliative Behandlung. Am 16.07.2014 heiratete der Kläger die Versicherte, die am 01.08.2014 verstarb. Er beantragt Witwerrente.

Das SG hat nach umfangreichen Ermittlungen die Klage abgewiesen, da die vom Kläger vorgetragenen Gründe für die Eheschließung und Umstände anlässlich der Eheschließung nicht ausreichen, um die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe zu widerlegen. Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Es sei ihm und der Versicherten nicht geglaubt worden, dass sie nur wegen des Wunsches der Versicherten geheiratet haben, um nicht mit ihrem Ehenamen zu versterben (sie war früher geschieden worden). Der Aufgrund des Ablebens der Versicherten entstehende Anspruch des Klägers auf Hinterbliebenenrente habe bei der Eheschließung keine Rolle gespielt. Die Eheschließung habe nicht dem Zweck gedient, dem Kläger eine Altersversorgung zu verschaffen. Vielmehr habe die Versicherte seit Beginn des Zusammenlebens mit dem Kläger im Jahr 1989 stets und immer wieder erklärt, dass sie prinzipiell nicht heiraten wolle, aber den Kläger heiraten möchte, wenn sie schwer erkrankt sein würde.

Entscheidung: Besondere Umstände sind nicht festzustellen

Das LSG weist die Berufung als unbegründet zurück.

Besondere Umstände des § 46 Abs. 2 a Halbsatz 2 SGB VI ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen richterlichen Kontrolle unterliegt. Nach der Rechtsprechung sind als besondere Umstände alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls anzusehen, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen. Dabei kommt es auf die unterschiedlichen Beweggründe an, aber auch auf die Art der Erkrankung, die Voraussehbarkeit des Krankheitsverlaufs und die Pflegesituation sowie ggf. das Vorhandensein gemeinsamer Kinder. Zur Überzeugung des Senats sind besondere Umstände nicht nachgewiesen, die gegen eine Versorgungsehe sprechen und angesichts der lebensbedrohlichen Erkrankung auch von ausreichendem Gewicht sind. Festzustellen ist, dass konkrete Handlungen für eine Eheschließung erst nach der Entlassung der Versicherten aus der stationären Behandlung am 26.06.2014 in die Wege geleitet wurden. Für die Betreuung der Versicherten hat die Eheschließung keine Bedeutung gehabt, was sich schon aus dem Gutachten des MDK zur Einstufung nach dem SGB XI ergibt. In diesem Gutachten wurde vermerkt, dass die Pflege und Betreuung der Versicherten durch den Kläger – auch ohne Heirat – sichergestellt war. Der Wunsch der Versicherten, mit der Eheschließung die Änderung ihres Ehenamens herbeizuführen, ist zwar ein von der Versorgungsabsicht verschiedener Beweggrund. Aus der Gesamtschau der objektiven und subjektiven Umstände ergibt sich aber nicht, dass dieser Beweggrund den Versorgungszweck überwiegt. Dass im übrigen der Kläger bei der Eheschließung nicht an die Versorgung gedacht hat oder eine Versorgungsabsicht hatte, reicht angesichts des schweren Krankheitszustands und der infausten Prognose nicht aus, um die für den Hinterbliebenen-Rentenanspruch erforderlichen „besonderen Umstände“ gem. § 46 Abs. 2 a SGB VI zu begründen.

Praxishinweis

1. Dass es besondere Umstände auch in extremen Situationen geben kann, zeigt das Urteil des LSG Thüringen vom 11.04.2018 (BeckRS 2018, 24346), wonach nach eintägiger Ehedauer der Witwe Hinterbliebenenrente zugesprochen wurde, weil – durch Zeugenaussagen belegt – die Trauung gerade nicht auf Betreiben der späteren Eheleute erfolgte, sondern durch andere Personen, für die die Versorgung der Klägerin wirtschaftlich keine Rolle spielt. Letztlich ist es zur Umsetzung der Eheschließung nur deshalb gekommen, weil eine dritte Person von außen die Durchführung der Eheschließung in die Wege geleitet hat. Sie kannte den Versicherten, weil er mehrfach im Krankenhaus stationär in Behandlung war, jeweils begleitet durch die Klägerin.

2. Offensichtlich handelt es sich bei dieser Entscheidung des LSG Thüringen um einen extremen Ausnahmefall. Das LSG Baden-Württemberg hat in mehreren Entscheidungen aus 2018 solche besonderen Umstände verneint, auch dann, wenn die Hinterbliebenen von einer Heirat „aus tiefer Liebe“ sprachen (BeckRS 2018, 20438; ähnlich LSG Baden-Württemberg, BeckRS 2018, 16654 - in diesem Fall bezieht sich das Gericht auch auf die finanziellen Verhältnisse der Klägerin und auf einen Erbvertrag, in dem bereits die Krebserkrankung des Versicherten eine Rolle spielte).

Immer wieder heißt es, dass langjähriges Zusammenleben ohne Heirat eher noch für eine Versorgungsehe spricht und damit dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente entgegensteht (vgl. zusammenfassend Plagemann, in: MAH SozR, 5. Aufl., § 23 Rn. 8 ff.; LSG Hessen, BeckRS 2017, 139450).

Redaktion beck-aktuell, 21. Januar 2019.