BSG: Sperrzeit wegen unterlassener Bewerbung

SGB III § 159 I 1, 2 Nr. 2, IV 1; SGG §§ 144 I 1, 155

1. Eine konkludente Entscheidung des LSG über die Zulassung der Berufung durch Entscheidung in der Sache ist jedenfalls dann nicht möglich, wenn keine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im erstinstanzlichen Urteil erfolgte.

2. Die Entscheidung über die Berufung durch den Einzelrichter ist trotz grundsätzlicher Rechtsfragen, die der Fall aufwirft, zulässig, sofern das Berufungsurteil auch auf einem eigenständigen Begründungsstrang beruht, der keine solchen Fragen aufwirft.

3. In einem engen zeitlichen Zusammenhang erfolgte Stellenvorschläge stellen einen einheitlichen Vorgang dar. Erfolgt keine Bewerbung auf irgendeines dieser Angebote, stellt dies lediglich ein versicherungswidriges Verhalten dar, das – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – nur die Verhängung einer dreiwöchigen Sperrzeit nach § 159 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB III rechtfertigt. (Leitsätze des Verfassers)

BSG, Urteil vom 03.05.2018 - B 11 AL 2/17 R, BeckRS 2018, 13873

Anmerkung von
Rechtsanwalt Christian Haidn, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits-, Handels- und Zivilprozessrecht Prof. Dr. C. W. Hergenröder, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 23/2018 vom 23.11.2018

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Sachverhalt

Gegenstand des Verfahrens ist das Ruhen des klägerischen Anspruchs auf Arbeitslosengeld infolge der Verhängung einer Sperrzeit gem. § 144 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. (nunmehr § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Die Beklagte unterbreitete dem Kläger, dem ab 01.07.2011 Arbeitslosengeld für 300 Kalendertage bewilligt worden war, am 29.11.2011 zwei Stellenangebote sowie ein drittes am Folgetag. Der Kläger bewarb sich auf keine der Stellen.

Am 30.01.2012 erließ die Beklagte wegen der unterlassenen Bewerbungen drei Bescheide gegenüber dem Kläger. Mit dem ersten verhängte sie eine dreiwöchige Sperrzeit vom 01.12.2011 bis 21.12.2011, mit dem zweiten eine sechswöchige Sperrzeit vom 01.12.2011 bis 11.01.2012 und mit dem dritten eine zwölfwöchige Sperrzeit vom 12.01.2012 bis 04.04.2012 und forderte überzahltes Arbeitslosengeld für den Dezember 2011 zurück. Der Wert des in der zweiten, sechswöchigen Sperrzeit nicht gezahlten Arbeitslosengeldes betrug 556,50 EUR.

Der erste Bescheid wurde bestandskräftig. Widerspruch und Klage gegen den zweiten und den dritten Bescheid wurde kein Erfolg zuteil. Auf die Berufung des Klägers hob das LSG die beiden angegriffenen Bescheide jedoch auf. Die Entscheidung erging nach Zustimmung der Parteien durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin. Hinsichtlich des zweiten Bescheides begründete es die Entscheidung damit, dass die beiden am 29.11.2011 unterbreiteten Vorschläge einen einheitlichen Vorgang darstellten, weshalb ihre Ablehnung in einem ebenfalls einheitlichen Akt mangels eines vorangegangenen versicherungswidrigen Verhaltens nur zu einer ersten, dreiwöchigen Sperrzeit gem. § 144 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. (jetzt § 159 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB III) führen könne. Die Verhängung einer zweiten, sechswöchigen Sperrzeit wegen der Ablehnung des Vorschlags vom 30.11.2011 sei nicht möglich, weil es bei Erlass des entsprechenden Bescheides an der erforderlichen Feststellung einer ersten Sperrzeit gefehlt habe.

Außerdem sei der Bescheid rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X nicht vorlagen.

Gegen das Urteil des LSG legte die Beklagte Revision ein. Sie rügte neben der Entscheidung in der Sache die Besetzung des Gerichts, weil das Urteil durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin erging, obwohl der Fall Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe.

Entscheidung: Die unterbreiteten Stellenangebote sind als einheitlicher Vorgang zu werten

Auf die Revision der BA hebt das BSG das Urteil des LSG auf und weist die Berufung des Klägers als unzulässig zurück. Die Berufung hinsichtlich der sechswöchigen Sperrzeit war bereits unzulässig, weil der gem. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG erforderliche Gegenstandswert von 750 EUR nicht erreicht worden war. Die Berufung bedurfte damit der Zulassung gem. § 144 Abs. 1 SGG, die aber weder im Urteil des SG noch durch Beschluss des LSG erfolgte. Die Entscheidung über die Berufung ist nicht als konkludente Zulassung derselben zu werten, weil die Entscheidung des LSG über die Zulassung der Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG die Beschwerde gegen die Nichtzulassung im Urteil des SG voraussetzt. Dem LSG fehlte damit die Entscheidungsbefugnis über die Zulassung der Berufung.

Soweit die Besetzung des Gerichts gerügt wurde, blieb der Revision der Erfolg versagt. Die Entscheidung durch den konsentierten Einzelrichter gem. § 155 Abs. 3, Abs. 4 SGG war zulässig, weil es auf die aufgeworfene grundsätzliche Rechtsfrage um die Einheitlichkeit des versicherungswidrigen Verhaltens nicht ankam. Nur wenn dies der Fall ist, hat die Entscheidung durch den Senat zu erfolgen. Die fehlende Bedeutung der Rechtsfragen für das Urteil folgte daraus, dass das Berufungsurteil auf zwei Begründungssträngen beruhte. Zum einen waren dies die fehlenden Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F., zum anderen, dass auch § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X keine taugliche Rechtsgrundlage für den angegriffenen Bescheid bildet. Die Beurteilung der letzteren Norm beinhaltete hier indes keine besonderen rechtlichen Probleme.

Wegen der Aufhebung des Bescheides über die zwölfwöchige Sperrzeit blieb die Revision der Beklagten erfolglos. Die hier unterbreiteten Stellenangebote sind als einheitlicher Vorgang zu werten. Diese Wertung begründet sich damit, dass der Versicherte in einem solchen Fall alle Vorschläge einer Gesamtwürdigung unterziehen muss, etwa im Hinblick auf Pendelzeiten, einem erforderlichen Umzug oder den Verdienst. Da er nur ein Angebot annehmen kann, muss er die Angebote anhand dieser Würdigung abwägen und priorisieren. Eine Bewerbung auf keines dieser Angebote stellt dann nur ein versicherungswidriges Verhalten dar, welches nur mit einer einzigen Sperrzeit sanktioniert werden kann.

Etwas anderes gilt dann, wenn zwischen zwei Vorschlägen ein solcher zeitlicher Abstand liegt, der dazu führt, dass bei Unterbreitung des zweiten Vorschlages eine Bewerbung auf den vorangegangenen bereits hätte erfolgen müssen. Wann dies der Fall ist, kann aber nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Der vorliegende Abstand von wenigen Tagen war jedenfalls zu gering, als dass die Einheitlichkeit des Vorganges unterbrochen worden wäre. Die vorgeschlagenen Arbeitsstellen lagen außerhalb des zumutbaren Pendelbereichs, weswegen ein Umzug notwendig gewesen wäre.

Praxishinweis

1. Die Abgrenzung, ab wann eine fehlende Bewerbung nach Unterbreitung mehrerer Stellenvorschläge die Verhängung mehr als einer Sperrzeit rechtfertigt, richtet sich danach, ob die erste Sperrzeit bereits „eingetreten“ ist (dazu: Mutschler, in: KKW Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl. 2017, § 159 SGB III Rn. 113). Die „Einheitlichkeit“ von Stellenangeboten, die in einem engen zeitlichen Zusammenhang stehen, endet aber nicht erst dann, wenn wegen der ersten Ablehnung bereits ein Sperrzeit-Bescheid ergangen ist.

2. Das LSG Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 22.08.2018 (BeckRS 2018, 23589) entschieden, dass die Abänderung auch dann gem. § 48 SGB X wegen Änderung der Rechtslage (hier: Sperrzeit) erfolgt, wenn der abzuändernden Bescheid aus anderen Gründen bereits von Anfang rechtswidrig ist.

Redaktion beck-aktuell, 28. November 2018.