BSG: Jahresarbeitsentgeltgrenze während Mutterschutz und Erziehungsurlaub

SGB V § 6

Bei der Prognoseentscheidung, ob eine Arbeitnehmerin auch im Folgejahr die Jahresarbeitsentgeltgrenze überschreitet und damit gem. § 6 SGB V krankenversicherungsfrei ist, ist der Arbeitsentgeltausfall aufgrund der Mutterschutzfristen zu berücksichtigen. (Leitsatz des Verfassers)

BSG, Urteil vom 07.06.2018 - B 12 KR 8/16 R, BeckRS 2018, 17395

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 18/2018 vom 14.09.2018

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Sachverhalt

Die Klägerin wendet sich gegen die Festsetzung von Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung. Die 1982 geborene Klägerin war als Arbeitnehmerin versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Krankenkasse. Im Jahr 2012 betrug ihr Bruttogehalt 50.776 EUR. Die Arbeitgeberin der Klägerin meldete sie bei der beklagten Krankenkasse ab 01.01.2013 als versicherte Arbeitnehmerin ab, da die Jahresarbeitsentgeltgrenze überschritten werde. Beiträge führte die Arbeitgeberin weiterhin unmittelbar an die Beklagte ab. Die Klägerin befand sich ab 22.03.2013 im Mutterschutz bis zum 01.07.2013. In der nachfolgenden Elternzeit bezog die Klägerin teilweise Elterngeld und war nicht berufstätig. Die Beklagte stufte die Klägerin mit angefochtenem Bescheid als freiwilliges Mitglied in die Beitragsklasse 801 ein und setzte den monatlichen Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag fest.

Dagegen richten sich Widerspruch und Klage der Klägerin. Das SG hat die Klage abgewiesen; das LSG hat auf Berufung der Klägerin das Urteil des SG sowie die Bescheide aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin sei auch nach dem 01.01.2013 pflichtversichertes Mitglied der Beklagten geblieben. Das Arbeitsentgelt der Klägerin für das Jahr 2013 sei unter Berücksichtigung der mutterschaftsbedingten Entgeltausfälle zu schätzen und bleibe wegen der anstelle des ausgefallenen Arbeitsentgelts bezogenen Mutterschaftsleistungen unter der für 2013 geltenden Jahresarbeitsentgeltgrenze. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten, die eine Verletzung des § 6 Abs. 4 Satz 2 SGB V rügt. Arbeitsentgeltausfälle wegen Mutterschaft seien nicht zu berücksichtigen.

Entscheidung

Das BSG weist die Revision der Beklagten zurück. Tatsächlich habe die Klägerin mit ihren Einkünften im Jahre 2013 die nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V maßgebliche Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht überschritten, so dass sie weiterhin versicherungspflichtiges Mitglied war. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bestimmt, dass Arbeitnehmer, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die Grenze des § 6 Abs. 6 oder 7 SGB V übersteigt, versicherungsfrei sind. Die Versicherungspflicht endet bei entsprechender Lohnerhöhung nicht im laufenden Jahr, sondern erst zu dessen Ende – vorausgesetzt das Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze war nicht ein „einmaliges Phänomen“. Maßgeblich ist also eine Prognose. Dabei ist auf das vereinbarte Arbeitsentgelt und das zu erwartende Jahresarbeitsentgelt für das nächste Kalenderjahr abzustellen. Als regelmäßig zu erwartender Verdienst ist nur der Verdienst zu berücksichtigen, bei dem damit zu rechnen ist, dass er bei normalem Verlauf voraussichtlich ein Jahr anhalten wird. In die Prognose sind nach Sinn und Zweck des § 6 SGB V feststehende zukünftige Veränderungen des Arbeitsentgelts einzustellen. Das bedeutet: Bei der zum Ende des Kalenderjahres anzustellenden Prognose bezüglich des im nächsten Kalenderjahr 2013 zu erwartenden Jahresarbeitsentgelts ist im Falle der Klägerin der Entgeltausfall aufgrund der Schutzfrist des Mutterschutzgesetzes zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich nicht um „atypische oder krankhafte“ Verläufe, sondern um Entgeltveränderungen, die wegen der Mutterschutzfristen im Falle einer Schwangerschaft regelmäßig zu erwarten sind (und waren). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die beklagte Kasse zum Jahresende 2012 Kenntnis davon hatte, dass die Klägerin ein Kind erwartete. Maßgeblich für eine Prognose sind die zum Prognosezeitpunkt dem Arbeitgeber bekannten und erkennbaren Umstände.

Praxishinweis

Der Sachverhalt ist im Sinne des Urteils wohl nur dann „objektiv feststehend und erkennbar“, wenn zum Jahresende die Schwangerschaft feststeht, nicht aber, wenn sie vermutet wird oder wenn kurz darauf eine Schwangerschaft festgestellt wird, die schon vor dem Jahreswechsel objektiv vorlag. Zu fragen ist nun, ob eine Schwangerschaft im Sinne der Entscheidung auch dann „erkennbar“ zum Jahreswechsel war, dem Arbeitgeber aber noch nicht mitgeteilt worden ist. Nach § 5 Abs. 1 MuSchG sollen werdende Mütter dem Arbeitgeber ihre Schwangerschaft mitteilen, „sobald ihnen ihr Zustand bekannt ist“. Eine weitere Frist kann sich allenfalls aus dem Arbeitsvertrag ergeben. Für die Schwangere hat die Pflichtmitgliedschaft erhebliche Bedeutung, weil die Mitgliedschaft fortbesteht bei Anspruch auf Mutterschaftsgeld und Erziehungsgeld, § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V.

Redaktion beck-aktuell, 17. September 2018.