LSG Niedersachsen-Bremen: Keine Verzinsung von Nachzahlungen an Asylbewerber

SGB I § 44; BGB § 291; AsylbLG §§ 2, 3; GG Art. 3

Da das Asylbewerberleistungsgesetz kein Bestandteil des Sozialgesetzbuchs ist, findet die Vorschrift über die Verzinsung gem. § 44 SGB I auf nachgezahlte Leistungen weder direkt noch analog Anwendung. Die gesetzgeberische Entscheidung, ein eigenes Leistungssystem für Asylbewerber zu begründen, schließt die analoge Anwendung von § 44 SGB I aus. Das verstößt nicht gegen Art. 3 GG. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.04.2018 - L 8 AY 40/16, BeckRS 2018, 11680

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 17/2018 vom 31.08.2018

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Sachverhalt

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch auf Verzinsung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Streit.

Die Kläger bezogen in den Jahren 2009 bis 2011 Leistungen nach dem AsylbLG einschließlich Kosten für die Unterkunft. Im März 2013 stellten die Kläger einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, mit dem sie geltend machten, dass in der Zeit von Juni 2009 bis Dezember 2010 zu geringe Unterkunftskosten berücksichtigt worden seien. Der Beklagte bewilligte weitere Leistungen im Wege eines Zugunsten-Bescheides gem. § 44 SGB X und nochmals im darauffolgenden Klageverfahren. Den Antrag auf Verzinsung der sich aus den Abhilfebescheiden ergebenden Nachzahlung lehnte der Beklagte ab mit der Begründung, es fehle an einer gesetzlichen Grundlage dafür. § 44 SGB I sei nicht anwendbar.

Dagegen richtet sich die Klage der Kläger, die den Anspruch auf Verzinsung aus § 44 SGB I oder §§ 288, 291 BGB herleiten. Das SG hat der Klage stattgegeben, soweit es um Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG geht, im Übrigen aber die Klage abgewiesen, soweit es um Leistungen nach § 3 AsylbLG ging. Gegen die Nichtzulassung der Berufung haben die Kläger Beschwerde eingelegt, woraufhin der Senat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat. Mit der Berufung verfolgen die Kläger ihren Anspruch weiter.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Der unmittelbaren Anwendung von § 44 SGB I steht entgegen, dass das AsylbLG kein Bestandteil des Sozialgesetzbuchs ist. In § 68 SGB I ist dieses Gesetz nicht erwähnt. Die Vorschriften des SGB I und des SGB X sind direkt nur anwendbar, wenn und soweit dies im AsylbLG ausdrücklich angeordnet ist. Eine solche Anordnung besteht bezogen auf das SGB I lediglich für die §§ 60 bis 67, nicht aber für § 44 SGB I. Im Übrigen finden im Bereich des AsylbLG die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder Anwendung (so auch BSG, NZS 2012, 77).

Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 44 SGB I sind nicht erfüllt. Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird, ist nur geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist, nach dem Grundgedanken der Norm und dem mit ihr verfolgten Ziel dieselbe rechtliche Bewertung erfordert und eine unbewusste planwidrige Regelungslücke vorliegt. Der Normzweck des § 44 SGB I besteht vor allem darin, die durch die verspätete Gewährung von Geldleistungen entstehenden Nachteile auszugleichen. Zwar besteht bei den Leistungen nach dem AsylbLG eine vergleichbare Interessenlage; es fehlt aber an einer planwidrigen Regelungslücke. Der Gesetzgeber hat entschieden, für Asylbewerber ein eigenes Leistungssystem zu schaffen.

§ 291 BGB ist auf Leistungen nach dem AsylbLG nicht unmittelbar anwendbar, weil es sich um öffentlich-rechtliche Leistungen handelt. In Betracht käme allenfalls eine analoge Anwendung. Die Voraussetzungen dafür liegen nicht vor, da es insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt. Dies verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gem. Art. 3 GG. Es steht grundsätzlich im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers, für Asylbewerber ein eigenes Konzept zur Sicherung des Lebensunterhalts zu entwickeln und dabei auch Regelungen über die Gewährung von Leistungen abweichend vom Recht der Sozialhilfe zu treffen.

Praxishinweis

1. Das BVerfG hat sehr deutlich entschieden, dass die den Asylbewerbern zustehenden Leistungen ebenso wie die Grundsicherung nach SGB II oder SGB XII unter dem Schutz des Art. 1 GG stehen (BVerfG, FD-SozVR 2012, 337581 m. Anm. Steffen). Wenn die Verzinsung bei den Empfängern der Grundsicherung gemäß SGB II zum grundrechtsgeschützten Existenzminimum gehört, bedarf es für ein Abweichen im Falle der Asylbewerber einer plausiblen Begründung. Auch darüber wird möglicherweise der Deutsche Juristentag im September 2018 diskutieren (vgl. dazu das Gutachten von Kluth/Giesen, Migration und ihre Folgen – Wie kann das Recht Zuwanderung und Integration in Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Sozialordnung steuern?, München 2018).

2. Das LSG hat die Revision zurecht zugelassen. Sie ist anhängig unter dem Aktenzeichen B 7 AY 2/18 R.

3. Die Frage der Verzinsung gem. § 44 SGB I ist aktuell auch rechtshängig in verschiedenen Rechtsstreitigkeiten von Empfängern der erweiterten Honorarverteilung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Auch hier wird geltend gemacht, dass den ehemaligen Vertragsärztinnen und Vertragsärzten ein Anspruch auf Verzinsung deshalb nicht zustehen würde, weil die ihnen gewährte Versorgung – nach Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit – keine Sozialleistung (sprich: Altersversorgung) darstellen.

Redaktion beck-aktuell, 7. September 2018.

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