LSG Niedersachsen-Bremen: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Einschaltung eines privaten Postdienstes

SGG §§ 67 I, 151 I; PostG §§ 11, 12, 13, 51 i.d.F. 1998; PUDLV §§ 1, 2 Nr. 3

Dem Prozessbevollmächtigten, der eine Rechtsbehelfsschrift mit einem privaten Postunternehmen übermitteln will, obliegt die gewissenhafte Prüfung, ob die fristwahrende Zustellung mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist, wie bei Inanspruchnahme des Postuniversaldienstes der Deutschen Post AG. (Leitsatz der Verfasserin)

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.08.2017 - L 2 R 49/17, BeckRS 2017, 122071

Anmerkung von
Jana Schäfer-Kuczynski, wiss. Mitarbeiterin, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 21/2017 vom 27.10.2017

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Sachverhalt

Im Streit steht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen einer verfristet eingegangenen Berufung durch den von der Klägerin beauftragten Prozessbevollmächtigten. Die Klägerin stritt erstinstanzlich um die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente infolge verschiedener, teils langjährig zurückliegender Unfälle bzw. Erkrankungen. Vor dem SG Hildesheim scheiterte ihre Klage im Wesentlichen an der Nichterfüllung der Vorversicherungszeit aufgrund zwischenzeitlich mehrjähriger Selbstständigkeit der Klägerin (Urteil vom 07.12.2016 – S 28 R 69/14, n.v.).

Gegen das die Klage auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ablehnende Urteil, das dem Prozessbevollmächtigten am 27.12.2016 zugestellt wurde, legte dieser für die Klägerin auf den 20.01.2017 datiert Berufung ein, die nach Aufgabe zur Post am 23.01.2017 am 30.01.2017, mithin um drei Tage verspätet, beim LSG einging. Zur Übermittlung der Rechtsmittelschrift hatte sich der Prozessbevollmächtigte eines privaten Postunternehmens bedient, welches in einem überregional agierenden Postdienstleistungsverbund organisiert war.

Die Klägerin begehrte sodann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG und machte geltend, dass ihr Anwalt auf eine rechtzeitig Zustellung der Berufungsschrift durch die zum Postdienstleistungsverbund gehörenden Unternehmen habe vertrauen dürfen, da sie über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg gute Erfahrungen mit diesem privaten Postdienstleister gemacht habe.

Entscheidung

Der 2. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen weist den Antrag auf Wiedereinsetzung einstimmig und beschlussweise als unbegründet und damit die Berufung gem. §§ 153 Abs. 4, 151 Abs. 1 SGG als unzulässig zurück.

Auf die Zurechenbarkeit des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten zur Klägerin hinweisend (vgl. zur Zurechnung im speziellen Verwaltungsrecht die dezidierte Entscheidung des SG Fulda, BeckRS 2017, 120369), fällt der verspätete Zugang der Berufungsschrift in den alleinigen Verantwortungsbereich des Prozessbevollmächtigten, denn dieser hat sich bewusst dagegen entschieden, die Berufungsschrift mittels Postuniversaldienst i.S.d. Postuniversaldienstleistungsverordnung (PUDLV) zu übermitteln. Nur dieser hat ein

Zustellungszeitfenster nach § 2 Nr. 3 PUDLV, innerhalb dessen die Deutsche Post AG auszuliefern hat. Stattdessen hat der Bevollmächtigte auf einen privaten Postdienstleister zurückgegriffen, dessen Zuverlässigkeit hinsichtlich der Postlaufzeiten im Gegensatz zur Deutschen Post AG nicht hinreichend objektiv nachgewiesen ist.

Der 2. Senat stellte vorab klar, dass dem Prozessbevollmächtigten hinsichtlich der Aufgabe fristwahrender Rechtsbehelfsschreiben ein besonders hoher Sorgfaltsmaßstab abzufordern ist. Der vor der Öffnung des Postzustellungsmarktes 2007 durch die Rechtsprechung anerkannte Vertrauensschutz auf eine Postlaufzeit von ein bis zwei Tagen durch die Deutsche Post als „gesetzlich vorgesehene Übermittlerin prozessualer Erklärungen“ (BVerfGE 41, 23) ist durch die Vorgaben der PUDLV gleichsam abgelöst worden (vgl. auch VGH Hessen, BeckRS 2012, 52447). An die darin normierten Postlaufzeiten für Universaldienste nach §§ 1, 2 Nr. 3 i.V.m. § 11 PostG sei nur die Deutsche Post AG gebunden, da grundsätzlich nur sie Universaldienste gewährleistet. Die im Übrigen ca. 600 lizenzierten Postdienstleister nehmen, so das LSG, an dieser Bindung nur über die durch Veröffentlichung im Amtsblatt der Regulierungsbehörde zu begründende Mitwirkungspflicht nach § 12 Abs. 1 i.V.m. §§ 13-17 PostG zur Erledigung der Universaldienste teil, sobald dieser Zustellungssektor nicht mehr hinreichend sichergestellt wird (zu den Verpflichtungsvoraussetzungen siehe § 13 PostG). Mangels einer solcherart veröffentlichten Feststellung besteht hiernach kein Anlass, die „gewohnten“ Postlaufzeiten von ein bis zwei Tagen erwarten zu dürfen, soweit der Absender nicht die Universaldienste der Deutschen Post AG nutzt.

Individuelle Zuverlässigkeitserfahrungen mit lizenzierten Postdienstleistern ändern hieran nichts, da lediglich subjektive und insoweit geringwertige Erkenntnisgrundlagen den angelegten Sorgfaltsmaßstab nicht erfüllen. Eine „tragfähige Grundlage“ für das Postlaufzeitvertrauen für die Zustellung von prozessualen Erklärungen sieht das LSG etwa in einer unternehmerischen Zusicherung von Postlaufzeiten auf Grundlage von Erhebungen „neutraler Prüfinstitute“ über den jeweiligen Standard von Postzustellungszeiten. Will der Absender einen anderen Postzustellungsdienst gleichwohl nutzen, ohne dass sich die erforderliche „Gewissheit“ über die zeitige Zustellung gewinnen lässt, so hat er den Versand entsprechend früher umzusetzen, sich rechtzeitig über dessen tatsächlichen Zugang bei Gericht zu vergewissern und den Schriftsatz ggf. anderweitig fristwahrend zu übermitteln (Fax, elektronisch).

Eine Ausnahme für diesen Grundsatz gilt dann, wenn die Wahrnehmung dieses normativ begründeten Laufzeitmonopols der Deutschen Post AG dem Absender nicht zuzumuten ist. Die Unzumutbarkeitsgrenze wird durch die lediglich geringfügig teurere Frankierung bei der Deutschen Post AG jedenfalls nicht überschritten.

Der 2. Senat resümiert, dass der Absender das Risiko verspäteter Zustellung vollumfänglich trägt, solange seine Motivation, einen von der Deutschen Post AG abweichenden Zustellungsdienst für Universaldienste heranzuziehen, sich lediglich in – so wörtlich – Bequemlichkeit oder geringfügigen Einsparungen gründet.

Ob sich ein anderes ergibt, wenn der beauftragte Alternativdienstleister seinerseits die Deutsche Post AG mit der Zusendung unterbeauftragt, konnte das LSG mangels Glaubhaftmachung der dazu behaupteten Tatsachen durch die Klägerin offen lassen.

Praxishinweis

1. Das Urteil stellt das auch nach 2007 bestehende faktische Monopol der Deutschen Post AG erstaunlicherweise zurück auf rechtliche Füße. Ob dies vom Gesetzgeber nach den Regelungen des Postgesetzes intendiert ist, mag bezweifelt werden. Denn laut § 1 PostG soll der Wettbewerb im Postwesen gefördert und eine flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistung gewährleistet werden. Die freiwillige Teilnahme lizenzierter Postdienstleister am Universaldienstleistungssektor derart zuzuordnen, dass deren Zuverlässigkeit entgegen allgemeiner oder teilnehmerspezifischer „Gepflogenheiten“ der Briefzustellung nicht grundsätzlich unterstellt werden kann, verwundert vor dem Hintergrund der Voraussetzungen der Lizenzerteilung nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2 Nr. 2 PostG. Hierin wird explizit auf die Einhaltung „der Rechtsvorschriften“ sowie die „üblichen Arbeitsbedingungen“ abgestellt. Warum lizenzierte Postdienstleister abseits der Deutschen Post AG also nicht über § 11 Abs. 1 und 2 PostG an § 2 Nr. 3 PUDLV gebunden sein sollen, vermag sich nach der Begründung nicht zu erschließen. Der Senat scheint hier einem naturalistischen Fehlschluss unterlegen zu sein.

2. In der Sache richtig und wichtig ist gleichwohl die vom Senat geklärte Anforderung, dass der Absender einer Prozesserklärung bei der Auswahl des zu beauftragenden Postdienstleisters genau hinzusehen hat, ob dieser logistisch und organisatorisch derart aufgestellt ist, dass eine Zusendung binnen regulär zu erwartender Zeit „x“ mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann. Hierzu liegt es im ureigenen wirtschaftlichen Interesse des Marktteilnehmers selbst, dem Absender verlässliche Hinweise zu seinen Postlaufzeiten geben zu können. Dem Auftraggeber erst dann ein Vertrauendürfen auf diese Verlässlichkeit zuzusagen, wenn sie von „unabhängigen Prüfinstituten“ statistisch reliabel versichert ist, erscheint in Ansehung von § 1 PostG zweckfremd. Dass der Absender mit eigenen (wie im vorliegenden Fall mehrjährigen) Erfahrungen auch und gerade mit der Zusendung von Prozesshandlungen nicht gehört werden soll, um eine Verschuldenszurechnung zu unterbrechen, vermag insoweit nicht zu überzeugen.

Redaktion beck-aktuell, 30. Oktober 2017.