OLG Braunschweig: Erstattung der notwendigen Auslagen für zwei Wahlverteidiger nach Freispruch im Wege der Rechtsfortbildung

ZPO § 91 II 2; StPO § 464 a II Nr. 2

Die Vorschrift des § 91 II ZPO, die im Strafverfahren über § 464 a II Nr. 2 ZPO zur Anwendung kommt, sieht zwar regelmäßig eine Erstattung von Kosten mehrerer Wahlverteidiger nur insoweit vor, als diese die Kosten eines Wahlverteidigers nicht übersteigen. Einem Freigesprochenen sind aber dann die notwendigen Auslagen, die er für zwei Wahlverteidiger gezahlt hat, zu ersetzen, wenn seine Verteidigung ausnahmsweise im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität des Strafverfahrens durch nur einen Wahlverteidiger schlechterdings nicht zu bewältigen war. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Braunschweig, Beschluss vom 20.06.2019 - 1 Ws 292/18, BeckRS 2019, 12722

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 15/2019 vom 17.07.2019

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Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig warf dem Beschwerdeführer mit einer 156 Seiten umfassenden Anklageschrift vom 29.5.2013 die Begehung von 11 Straftaten des versuchten Totschlags gem. §§ 212, 22, 23 StGB sowie von 3 Straftaten der Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 StGB (Behandlung ohne medizinische Indikation) vor. Bereits im Ermittlungsverfahren bestellten sich Rechtsanwalt Dr. H. (am 7.6.2012) und Rechtsanwalt Prof. Dr. S. (am 15.6.2012) als Wahlverteidiger. Beide Rechtsanwälte sind Fachanwälte für Strafrecht. Beide Verteidiger arbeiteten im Strafverfahren arbeitsteilig zusammen. Der BGH verwarf die von der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen das 1.232 Seiten umfassende Urteil eingelegte und mit der Sachrüge begründete Revision am 28.6.2017. Die Kosten beider Instanzen und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers wurden gem. § 467 I StPO der Staatskasse auferlegt.

Mit Schriftsatz vom 9.8.2017 beantragte Rechtsanwalt Prof. Dr. S. namens und in Vollmacht des Beschwerdeführers gem. §§ 464 b StPO, 104 ZPO, die notwendigen Auslagen festzusetzen. Den zu erstattenden Betrag bezifferte er im Antrag auf 163.099,86 EUR (1. Instanz) sowie auf 5.260,40 EUR (Revisionsinstanz) und fügte entsprechende Honoraraufstellungen bei. Darin waren die notwendigen Auslagen für beide Wahlverteidiger enthalten.

Mit Beschluss setzte die Rechtspflegerin beim LG Göttingen nach Anhörung der Bezirksrevisorin die von der Landeskasse zu erstattenden notwendigen Auslagen auf 84.821,07 EUR nebst Zinsen fest. Im Übrigen lehnte sie die begehrte Kostenfestsetzung ab. Nach der gesetzlichen Regelung (§§ 464 a II Nr. 2 StPO iVm § 91 II 2 ZPO) seien lediglich die Kosten für einen Wahlverteidiger zu berücksichtigen. Dem Freigesprochenen seien nur die erst- und zweitinstanzlichen Kosten des Rechtsanwalts Prof. Dr. S. (78.340,56 EUR und 2.883,73 EUR) sowie Wahlanwaltsvergütung iHv 3.596,78 EUR für 3 Termine (19.11.2013, 2.2.2015 und 27.3.2015) zu erstatten, die Dr. H. in Abwesenheit von Prof. Dr. S. wahrgenommen habe. Hiergegen richtete sich die sofortige Beschwerde. Die sofortige Beschwerde hatte überwiegend Erfolg.

Entscheidung: Erstattung der Kosten von zwei Wahlverteidigern bei umfangreichem, schwierigem und komplexem Strafverfahren

Die erstinstanzlichen Kosten, die durch die Mitwirkung von Rechtsanwalt Dr. H. entstanden seien, seien neben den Kosten für die Beauftragung von Rechtsanwalt Prof. Dr. S. ersatzfähig. Zwar seien die Kosten mehrerer Anwälte nach dem Wortlaut des § 91 II 2 Var. 1 ZPO, der über § 464 a II Nr. 2 StPO zur Anwendung komme, nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht überstiegen. Die grundsätzlich verfassungskonforme Vorschrift sei im vorliegenden Sonderfall jedoch im Wege der Rechtsfortbildung teleologisch zu reduzieren.

Dass eine durch einen Erstattungsanspruch zu schließende Regelungslücke vorliege, sei bei einem Freigesprochenen, bei dem zur Begründung der finanziellen Haftung nicht an die begangene Straftat angeknüpft werden könne, inzwischen anerkannt, wenn ihm zuvor ein Sicherungsverteidiger beigeordnet worden sei. Eine vergleichbare Regelungslücke liege aber ebenso bei einem Freigesprochenen, der zwei Wahlverteidiger beauftragt habe, vor, wenn seine Verteidigung im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität durch nur einen Wahlverteidiger nicht möglich gewesen sei. Dass eine solche Sonderkonstellation im vorliegenden Fall hinsichtlich der erstinstanzlichen Kosten ausnahmsweise gegeben gewesen sei, folge aus der Stellungnahme des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Celle G., der damals den Vorsitz der Schwurgerichtskammer des LG Göttingen geführt habe. Er habe ausgeführt, dass die Verteidigung im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität des Verfahrens schlechterdings nur durch das arbeitsteilige Zusammenwirken von zwei Wahlverteidigern zu bewältigen gewesen sei. Wenn der Freigesprochene lediglich einen Wahlverteidiger mandatiert hätte, hätte er - so der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht G. - „definitiv“ für das gesamte Verfahren einen zweiten Verteidiger als Sicherungsverteidiger bestellt.

Der Höhe nach orientiere sich der Erstattungsanspruch des Freigesprochenen nicht an den hypothetischen Kosten eines Pflichtverteidigers, sondern unmittelbar an den Wahlverteidigergebühren. Eine Erstattung der Auslagen von zwei Wahlverteidigern komme indes in Bezug auf die im Revisionsverfahren entstandenen Auslagen nicht in Betracht, sodass es insoweit bei den vom LG festgesetzten Kosten verbleibe.

Praxishinweis

Das KG (NStZ 1994, 451) hatte bereits entschieden, dass der durch zwei Wahlverteidiger vertretene Freigesprochene ausnahmsweise neben der Erstattung der Kosten für einen Wahlverteidiger die hypothetisch festzusetzende Vergütung für einen Pflichtverteidiger verlangen könne, wenn die Mitwirkung von zwei Verteidigern aus Gründen der gerichtlichen Fürsorge oder zur Sicherung des Verfahrensfortganges notwendig gewesen sei. Nach dem OLG Celle (BeckRS 2018, 22794 mAnm Mayer FD-RVG 2018, 411318) umfassen die notwendigen Auslagen des freigesprochenen Angeklagten die Erstattung von Wahlverteidigergebühren für zwei ihm beigeordnete Pflichtverteidiger, wenn die Bestellung des zusätzlichen Verteidigers zur Sicherung des Verfahrens unter Fürsorgegesichtspunkten (als sogenannter Sicherungsverteidiger) erfolgte. Das OLG Braunschweig geht in der berichteten Entscheidung noch einen Schritt weiter und billigt auch dem Freigesprochenen, der sich von zwei Wahlverteidigern hat verteidigen lassen, die Erstattung von Kosten zwei  Wahlverteidigern zu, wenn seine Verteidigung ausnahmsweise im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität des Strafverfahrens nur durch einen Wahlverteidiger schlechterdings nicht zu bewältigen war.

Redaktion beck-aktuell, 22. Juli 2019.