LSG Sachsen: Keine fiktive Terminsgebühr bei außergerichtlich abgeschlossenem Vergleich

VV 3205 Anm. 1 RVG; VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG; SGG § 101 I 2; ZPO § 278 VI

Ein schriftlicher Vergleich im Sinne von VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG ist nur ein schriftlicher Vergleich nach § 101 I 2 SGG oder ein solcher nach § 202 SGG iVm § 278 VI ZPO, sofern der in der Hauptsache zuständige Richter diese Regelung nach Einführung des § 101 I 2 SGG weiter für anwendbar hält. (Leitsatz des Gerichts)

LSG Sachsen, Beschluss vom 19.05.2017 - L 8 R 682/15 B KO, BeckRS 2017, 119807

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 18/2017 vom 6.9.2017

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Vergütungs- und Kostenrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Vergütungs- und Kostenrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Vergütungs- und Kostenrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Der Kläger führte, anwaltlich vertreten durch die Beschwerdeführerin, vor dem LSG ein Berufungsverfahren. Im Berufungsverfahren bewilligte das LSG dem Kläger PKH unter Beiordnung der Beschwerdeführerin. In der Folge gab die Beklagte mit Schriftsatz ein Vergleichsangebot zur Beendigung des Rechtsstreites ab. Ziffer 4 des Vergleichsvorschlags sah hierbei vor, dass die Beteiligten den Rechtsstreit in vollem Umfang für erledigt erklären. Der Kläger erklärte schriftsätzlich die Annahme dieses Vergleichsangebots. Sodann beantragte die Beschwerdeführerin, ihre aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren und Auslagen für das Berufungsverfahren festzusetzen und machte dabei ua eine Terminsgebühr VV 3205 RVG in der Variante des schriftlichen Vergleichs geltend. Die Urkundsbeamtin des Sozialgerichts setzte die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen ohne die Terminsgebühr fest. Die zur Festsetzung beantragte Terminsgebühr sei nicht entstanden. Zwar verweise VV 3205 RVG auf VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG. Dessen Voraussetzungen, nämlich der Abschluss eines schriftlichen Vergleichs, lägen indes nicht vor. Gegen die Absetzung der Terminsgebühr wandte sich die Beschwerdeführerin im Wege der Erinnerung. VV 3205 RVG iVm VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG verlange den Abschluss eines schriftlichen Vergleichs. Ein solcher liege hier vor. Das Sozialgericht wies die Erinnerung mit Beschluss zurück. Ein schriftlicher Vergleich iSd VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG liege nur dann vor, wenn die Beteiligten dem Gericht einen schriftlichen Vergleichsvorschlag unterbreiteten oder einen schriftlichen Vergleichsvorschlag des Gerichts durch Schriftsatz gegenüber dem Gericht annähmen und das Gericht das Zustandekommen und den Inhalt des so geschlossenen Vergleichs durch Beschluss feststelle (§ 278 VI ZPO) oder wenn die Beteiligten einen in Form eines Beschusses ergangenen Vorschlag des Gerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters schriftlich gegenüber dem Gericht annähmen (§ 101 I 2 SGG). Gegen den Beschluss des Sozialgerichtsgerichts richtete sich die Beschwerde der Beschwerdeführerin. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Rechtliche Wertung

Ein schriftlicher Vergleich iSd VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG sei nur ein gerichtlicher Vergleich nach § 101 I 2 SGG oder – sofern man diese Regelung nach Einführung des § 101 I 2 SGG überhaupt weiterhin für anwendbar halte – ein solcher nach § 202 SGG iVm § 278 VI ZPO.

Mit der Neufassung der VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz habe eine Angleichung an VV 3104 Anm. I Nr. 1 RVG erfolgen sollen. Nach der ganz überwiegenden Rechtsprechung zu dieser Vorschrift sei ein schriftlicher Vergleich nur ein solcher, der nach § 278 VI ZPO oder § 106 S. 2 VwGO unter konstitutiver Mitwirkung des Gerichts geschlossen werde.

Zudem mache die Verwendung des Terminus „Vergleich“ in VV 3104 Anm. I Nr. 1 RVG und VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG deutlich, dass es um einen bereits seiner äußeren Form nach als Vergleich erkennbaren Prozessvergleich gehen solle.

Ferner entspreche die Beschränkung auf Vergleiche nach § 101 I 2 SGG und ggf. – sofern der sachlich zuständige Richter § 278 VI ZPO weiterhin für anwendbar halte – § 202 SGG iVm § 278 VI ZPO auch dem Sinn und Zweck von VV 3104 Anm. I Nr. 1 RVG und VV 3106 Anm. 1 Nr. 1 RVG. Dieser bestehe nicht etwa darin, einen Anreiz dafür zu setzen, dass der Rechtsanwalt auf eine gütliche Einigung hinwirke. Diesen Zweck verfolgten allein die Nrn. 1000 ff. RVG. Die fiktive Terminsgebühr diene dazu, dem Anwalt das gebührenrechtliche Interesse an der Durchführung eines Termins in den Fällen zu nehmen, in denen das Gericht von den im Prozessrecht vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch machen wolle, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung zu beenden. Der Anwalt solle keinen Gebührennachteil dadurch erleiden, dass durch eine in der Hand des Gerichts liegende Verfahrensgestaltung auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde. Besonders deutlich werde dies durch die Änderungen der VV 3104 Anm. I 1 Nr. 2 RVG und der VV 3106 Anm. 1 Nr. 2 RVG durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz, wonach die fiktive Terminsgebühr bei Entscheidung durch Gerichtsbescheid nur noch entstehe, wenn mündliche Verhandlung beantragt werden könne. Dementsprechend setzten sowohl VV 3104 RVG als auch VV 3106 RVG ein Handeln des Gerichts voraus, das auf die Vermeidung einer mündlichen Verhandlung gerichtet sei, nämlich die erklärte Absicht einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Von daher sei es folgerichtig, die Regelungen der VV 3104 RVG und VV 3106 RVG auf § 101 I 2 SGG und (gegebenenfalls) § 278 VI ZPO zu beschränken. Nur in diesen Fällen sei die Mitwirkung des Gerichts für die vergleichsweise Beendigung des Rechtsstreits und damit für die Entbehrlichkeit der mündlichen Verhandlung konstitutiv. Der Ansatz einer fiktiven Terminsgebühr solle dem Anwalt in diesen Fällen das Interesse daran nehmen, auf einer mündlichen Verhandlung zu bestehen, damit in dieser dann ein zu protokollierender Prozessvergleich geschlossen werden könne. Einigten sich die Beteiligten ohne konstitutive Mitwirkung des Gerichts durch außergerichtlichen Vergleich, verzichteten sie selbst aus freien Stücken ohne entsprechende gerichtliche Veranlassung auf eine mündliche Verhandlung. In diesen Fällen bedürfe es keines gebührenrechtlichen Anreizes zur Vermeidung einer mündlichen Verhandlung, weil die Parteien diese ohnehin nicht durchführen wollten.

Praxistipp

Das auf den ersten Blick bestechende Argument, bei einem außergerichtlich abgeschlossenen Vergleich der Parteien sei eine Steuerungswirkung nicht notwendig, überzeugt bei näherem Hinsehen nur bedingt. Denn Ziel des Gesetzgebers ist es nicht nur, die Gerichte nur durch Vermeidung von Verhandlungsterminen, sondern im Allgemeinen zu entlasten. Dieses Ziel würde aber nicht erreicht werden, wenn die Parteien, um in den Genuss der fiktiven Terminsgebühr zu gelangen, bei außergerichtlich ausgehandelter Einigung stets den Weg über § 278 ZPO gehen und dem Gericht einen Vergleichsvorschlag unterbreiten müssten (vgl. auch SG Dessau-Roßlau BeckRS 2017, 107269 mAnm Mayer FD-RVG 2017, 393404).

Redaktion beck-aktuell, 8. September 2017.

Mehr zum Thema