LG Frankfurt a.M.: Sozialwiderspruch gem. § 574 Abs.1 BGB bei drohender Lebensgefahr

BGB §§ 546 I, 566, 573 III, 574, 574b

1. Begründet der Mieter seinen Sozialwiderspruch gem. § 574 Abs.1 BGB damit, dass beim Wohnungsverlust schwere Gesundheitsschäden bis hin zu Lebensgefahr drohen, genügt aufgrund des hohen Ranges der betroffenen Grundrechte bereits ein geringer Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit.

2. Da bei der Abwägung der betroffenen Grundrechte die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind, gilt der Rechtsgrundsatz, dass je höher das bedrohte Rechtsgut ist, umso geringere Anforderungen an die Konkretheit seiner Gefährdung und deren Feststellung zu treffen sind.

3. In Fällen, in denen der mögliche Schaden hoch und unwiederbringlich ist, wie bei Risiken schwerer dauerhafter Gesundheitsschäden oder gar eines tödlichen Ausgangs, kann dem Gefährdeten dann nicht das Risiko einer Gefahrverwirklichung aufgebürdet werden, wenn eine verlässliche und exakte Prognose der Konkretheit der Gefahr aufgrund der Komplexität der Fragestellung unmöglich ist.

LG Frankfurt a.M., Urteil vom 13.09.2018 - 2/11 S 46/17, BeckRS 2018, 26515

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bub, Rechtsanwalt Nikolay Pramataroff, Rechtsanwälte Bub, Gauweiler & Partner, München

Aus beck-fachdienst Miet- und Wohnungseigentumsrecht 23/2018 vom 22.11.2018

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Räumung und Herausgabe der vom Beklagten zu 2) seit Oktober 2007 angemieteten Wohnung, in der die Beklagten gemeinsam mit ihrem schwerstbehinderten Sohn wohnen. Die Kläger sind Teil einer Erbengemeinschaft und als Rechtsnachfolger des ehemaligen Vermieters in das Mietverhältnis eingetreten; seit dem 25.08.2016 ist die Klägerin zu 4) als Alleineigentümerin in das Grundbuch eingetragen. Die Klägerin zu 4) kündigte das Mietverhältnis mehrfach, zuletzt am 01.07.2016 und begründete dies mit Eigenbedarf. Die Beklagten widersprachen den Kündigungen, da das konkrete Risiko bestehe, dass der Sohn der Beklagten durch einen Umzug schwere und nachhaltige Gesundheitsschäden erleide.

Das Amtsgericht hat der Klage mit Urteil vom 05.01.2017 stattgegeben. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass die Kündigung vom 07.02.206 den formalen Erfordernissen des § 573 Abs. 3 BGB genüge und dass aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Amtsgerichts feststehe, dass die Voraussetzungen einer Eigenbedarfskündigung vorliegen. § 574 BGB stehe dem Herausgabeanspruch nicht entgegen, da die Beklagten nicht hinreichend nachvollziehbar und substantiiert dargelegt hätten, aus welchem Grund ein rechtzeitig geplanter und gut vorbereiteter Wohnungswechsel ein besonderes Gesundheitsrisiko für den Sohn der Beklagten darstelle oder voraussichtlich zusätzliche Krampfanfälle auslösen werde. Hiergegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung.

Entscheidung: Bei gesundheitlichen Nachteilen genügt bereits die ernsthafte Gefahr ihres Eintritts

Die Berufung hat Erfolg.

Die Beklagten könnten den ausgesprochenen Eigenbedarfskündigungen nach § 574 BGB widersprechen, da aufgrund der in der Berufungsinstanz durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung der Kammer feststehe, dass die Beendigung des Mietverhältnisses für den Sohn der Beklagten eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen der Klägerseite nicht zu rechtfertigen sei.

Die Begründung der Eigenbedarfskündigung genüge unzweifelhaft den Voraussetzungen des § 573 Abs. 3 BGB, die bei einer Kündigung wegen Eigenbedarfs grundsätzlich schon durch die Angabe der Person, für die die Wohnung benötigt werde, und die Darlegung des Interesses, das diese Person an der Erlangung der Wohnung habe, erfüllt seien.

Trotz wirksamer Kündigung sei das Mietverhältnis gleichwohl gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1, 574 a Abs. 1, 2 BGB auf unbestimmte Zeit fortzusetzen. Gemäß § 574 Abs. 1 BGB könne der Mieter der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der §§ 573 ff. BGB haben die Zivilgerichte neben dem Erlangungsinteresse des Vermieters auch das Bestandsinteresse des Mieters zu berücksichtigen, diese widerstreitenden Belange gegeneinander abzuwägen und in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen. Unter einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 BGB seien alle dem Mieter aus der Vertragsbeendigung erwachsenden Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art zu verstehen, die in Folge der Vertragsbeendigung auftreten können. Dabei müssten die dem Mieter entstehenden Nachteile nicht mit absoluter Sicherheit feststehen; insbesondere bei gesundheitlichen Nachteilen genüge vielmehr bereits die ernsthafte Gefahr ihres Eintritts.

Der gesundheitliche Zustand des Sohnes der Beklagten begründe eine nicht zu rechtfertigende Härte. Der Sohn der Beklagten sei auf Grund seiner Erkrankung räumungsunfähig, da die ernsthafte Gefahr bestehe, dass sich sein Gesundheitszustand durch den Umzug erheblich verschlechtern würde. Entgegen den Ausführungen des Amtsgerichts seien die Ausführungen der Beklagtenseite zur Räumungsunfähigkeit des Sohnes der Beklagten ausreichend substantiiert gewesen, weshalb das angebotene Sachverständigengutachten hätte eingeholt werden müssen. Der erstinstanzliche Vortrag der Beklagten sei hierzu ausreichend gewesen. Die Beklagten haben unter Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Attests behauptet, dass ihrem - unstreitig - schwerstbehinderten Sohn schwere und nachhaltige Gesundheitsschäden für den Fall des Verlusts der ihm vertrauten und unverzichtbaren Wohnumgebung drohen, wie etwa das Risiko schwerer und mit hirnorganischen Zusatzschäden verbundene Krampfanfälle. Das von der Kammer eingeholte Sachverständigengutachten komme zu dem überzeugend und widerspruchsfrei begründeten Ergebnis, dass durch einen Umgebungswechsel sog. „fokale“ epileptische Anfälle beim Sohn der Beklagten hervorgerufen werden können. Dies stelle eine Gefahr für die Gesundheit des Sohnes dar, könne zu einem Verlust bereits vorhandener Fähigkeiten führen und müsse als ein lebensbedrohliches Risiko angesehen werden. Zwar könne den Ausführungen des Sachverständigen nicht entnommen werden, dass ein Umzug zwangsläufig einen „fokalen“ Anfall hervorrufen würde. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen, wonach der Sohn der Beklagten als besonders empfindsam für Faktoren wie etwa einen Wohnungswechsel anzusehen sei und wonach „zu befürchten ist, dass auslösende Faktoren, zu denen ein Wohnungswechsel gehört, Anfälle begünstigen und verstärken“, gehe die Kammer jedoch davon aus, dass die ernsthafte Gefahr bestehe, dass es durch einen Umzug zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Sohnes der Beklagten und sogar zu lebensbedrohlichen Krampfanfällen kommen könne.

Dies genüge im vorliegenden Einzelfall für die Annahme einer erheblichen Härte i.S.d. § 574 BGB. Bei der Interessenabwägung im Rahmen des § 574 Abs. 1 BGB seien das Bestandsinteresse des Mieters mit dem Erlangungsinteresse des Vermieters in Beziehung zu setzen. Es sei zu fragen, welche Auswirkungen eine Vertragsbeendigung für den Mieter haben würde und wie sich eine Vertragsfortsetzung auf den Vermieter auswirke. Die Wertentscheidung des Grundgesetzes sei zu berücksichtigen. Sei die Räumung für den Mieter oder dessen Angehörigen mit einer Lebensgefahr verbunden, so müssten die Interessen des Vermieters zurückstehen. Das Interesse des Mieters an der Erhaltung seiner Gesundheit hat im Allgemeinen Vorrang vor allgemeinen Finanzinteressen des Vermieters. Der Wunsch des Vermieters, für sich und seine Familie eine angemessene Wohnung zu schaffen, sei umgekehrt vorrangig vor den Finanzinteressen des Mieters. Würden die Interessen der Parteien gleich schwer wiegen, so gebühre dem Erlangungsinteresse des Vermieters der Vorrang. Vorliegend sei von einer Härte i.S.v. § 574 Abs. 1 BGB für den Sohn der Beklagten auszugehen. Dem eingeholten Gutachten sei zu entnehmen, dass eine Veränderung der Lebensumstände erhebliche gesundheitliche Schäden bis hin zu lebensbedrohlichen Situationen führen könne. Wenngleich nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht endgültig klar werde, ob ein Wohnungswechsel für den Sohn der Beklagten eine unmittelbare Lebensbedrohung darstellen würde, so ergebe sich hieraus jedoch, dass ein Wohnungswechsel eine nicht nur abstrakte Gefahr für die Gesundheit und sogar das Leben des Sohnes darstelle. Hinter das somit durch Art. 13 GG sowie durch Art. 2 GG geschützte Bestandsinteresse der Beklagten müsste das durch Art. 14 GG geschützte Erlangungsinteresse der Kläger, die in ihrem Kündigungsschreiben angeführt werden, zurücktreten. Es gelte insoweit der allgemeine Rechtsgrundsatz, dass je höherwertiger das bedrohte Rechtsgut ist, umso geringere Anforderungen an die Gefährdung bzw. deren Feststellungen zu stellen sind. Bei einem so hohen Rechtsgut wie dem Leben, also dem höchsten Rechtsgut, müsse daher ein geringerer Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit verlangt werden. Der mögliche Schaden sei hier zu hoch und zu unwiederbringlich, als dass dem Gefährdeten das Risiko aufgebürdet werden könne, dass eine verlässliche und exakte Prognose auf Grund der Komplexität der Fragestellung nicht möglich ist. Daher müsse hier die nicht nur theoretische Möglichkeit eines fokalen Anfalls mit schwerwiegendem oder gar tödlichem Ausgang, die nach dem Sachverständigengutachten gegeben sei, ausreichend sein.

Praxishinweis

Der Entscheidung des Berufungsgerichts ist zuzustimmen.

Bei der Interessenabwägung des § 574 BGB ist das Bestandsinteresse des Mieters mit dem Erlangungsinteresse des Vermieters in Beziehung zu setzen. Dabei ist zu fragen, welche Auswirkungen eine Vertragsbeendigung für den Mieter haben würde und wie sich eine Vertragsfortsetzung auf den Vermieter auswirkt (LG München I Urteil vom 23.07.2014 – 14 S 20700/13, NZM 2014, 638, 640). Unter einer Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 BGB sind alle dem Mieter aus der Vertragsbeendigung erwachsenden Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art zu verstehen, die in Folge der Vertragsbeendigung auftreten können (LG Berlin Urteil vom 07.05.2015 - 67 S 117/14, BeckRS 2015, 10503), wobei allgemeine Unbequemlichkeiten, Unannehmlichkeiten oder Kosten, die mit jedem Wohnungswechsel verbunden sind, allein nicht genügen (BGH, Urteil vom 20.03.2013 – VIII ZR 233/1, NJW 2013, 1596 Tz. 15). Ausreichend ist jedoch bei zu erwartenden gesundheitlichen Nachteilen, dass lediglich die ernsthafte Gefahr ihres Eintritts besteht (BGH, Urteil vom 16.10.2013 – VIII ZR 57/13, NJW-RR 2014, 78 f. Tz. 20; zu behinderungsbedingten Anpassungsschwierigkeiten eines Autisten LG Aachen Urteil vom 28.09.2005 - 7 S 66/05, BeckRS 2007, 01452). Dies wird in den überwiegenden Fällen nur durch ein ärztliches Gutachten zu belegen sein. Unerheblich ist, ob allein der Umzug und die damit verbundene Stresssituation (BVerfG, Beschluss vom 12.02.1993 – 2 BvR 2077/92, ZMR 1993, 211), die Suche nach einer Ersatzwohnung (vgl. OLG Frankfurt Beschluss vom 28.10.1993 - 20 W 395/93, NJW-RR 1994, 81) oder das Leben in einer solchen den Nachteil mit sich bringt (vgl. Blank in Blank/Börstinghaus, Miete 5. Auflage 2017, § 574 BGB Rn. 44).

Redaktion beck-aktuell, 22. November 2018.