LG München I: Weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses bei andauernder Depression des Mieters

BGB §§ 574a II, 574b S. 1, 574c I

1. Wird ein Mietverhältnis nach § 574a Abs. 2 BGB auf bestimmte Zeit fortgesetzt, bedarf es nach Zeitablauf keiner neuen Kündigung; der Vermieter kann vielmehr sofort auf Räumung und Herausgabe klagen. Auch bei Fortsetzung des Mietverhältnisses auf bestimmte Zeit muss der Mieter den Widerspruch nach § 574b S. 1 BGB erneut erklären. Allerdings kann der Mieter seinen Widerspruch noch im ersten Termin des erneuten Räumungsrechtsstreits erheben, wenn der Vermieter ihn nicht rechtzeitig vor Ablauf der Befristung auf die Möglichkeit eines erneuten Fortsetzungsverlangens hingewiesen hat.

2. Zu den Voraussetzungen einer erneuten Fortsetzung des Mietverhältnisses wegen unvorhergesehener Umstände nach § 574c Abs. 1 BGB, wenn die schon früher bestehende schwere psychische Erkrankung fortdauert.

3. Zur Abwägung von Härtegründen auf Mieterseite mit den Interessen des wegen Eigenbedarfs kündigenden Vermieters. (Leitsätze des Gerichts)

LG München I, Urteil vom 30.11.2016 - 14 S 22534/14 (AG München), BeckRS 2016, 124265

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bub, Rechtsanwältin Nicola Bernhard, Rechtsanwälte Bub, Gauweiler & Partner, München

Aus beck-fachdienst Miet- und Wohnungseigentumsrecht 15/2017 vom 03.08.2017

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Sachverhalt

Die Parteien streiten um Räumung und Herausgabe eines Einfamilienhauses in München aufgrund einer von der Klägerin mit Schreiben vom 31.07.2008 ausgesprochenen Eigenbedarfskündigung. Die Parteien führten bereits in den Kalenderjahren 2008 bis 2010 einen Rechtsstreit über die Wirksamkeit mehrerer von der Klägerin ausgesprochener Eigenbedarfskündigungen. Mit rechtskräftigem Endurteil vom 02.06.2010 wies das AG München die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage der Klägerin ab und setzte das Mietverhältnis bis zum 30.06.2014 fort. Wörtlich heißt es hierzu im Tenor des Endurteils vom 02.06.2010 unter Ziffer 2:

„Das Mietverhältnis wird auf unbestimmte Dauer bis zum Wegfall der Räumungsunfähigkeit der Beklagten zu 2), längstens bis 30.06.2014, fortgesetzt.“

Aus dem Tatbestand des angegriffenen Urteils des AG München ergibt sich, dass die Beklagten im damaligen Verfahren den Eigenbedarf der Klägerin bestritten, aber hilfsweise beantragt hatten, die Fortsetzung des Mietverhältnisses gem. § 574a BGB auf unbestimmte Dauer bis zum Wegfall des Räumungshindernisses längstens bis 30.06.2014 auszusprechen.

Das AG hat im Endurteil vom 02.06.2010 die Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung vom 31.07.2008 nach Beweisaufnahme festgestellt, aber wegen in der Person der Beklagten zu 2) liegender Härtegründe das Mietverhältnis nach § 574 Abs. 1 BGB fortgesetzt. In dem damaligen Verfahren hatte das AG ein Sachverständigengutachten durch die Landgerichtsärztin beim LG München I erholt. Diese war in ihrem schriftlichen Gutachten vom 07.12.2009 hinsichtlich des Gesundheitszustandes der Beklagten zu 2) von einer mittelgradig bis schweren chronifizierten depressiven Störung ausgegangen und hatte ausgeführt, eine Prognose über den Gesundheitszustand der Beklagten zu 2) könne für die nächsten 5 Jahre nicht abgegeben werden, mit einer wesentlichen Besserung sei jedoch nicht vor Ablauf von zwei Jahren zu rechnen.

Mit Schreiben vom 23.05.2014 forderte die Klägerin die Beklagten zur Räumung und Herausgabe des Anwesens zum 30.06.2014 auf. Hierauf antworteten die Beklagten am 26.06.2014 und beantragten die erneute Fortsetzung des Mietverhältnisses unter Hinweis auf die unveränderte Erkrankung der Beklagten zu 2). Mit Schriftsatz vom 01.07.2014 erhob die Klägerin erneut Klage auf Räumung und Herausgabe des gemieteten Einfamilienhauses in München gegen die Beklagten. Eine erneute Kündigung sprach sie nicht aus. Das AG hat mit Endurteil vom 07.11.2014 der Räumungsklage stattgegeben und die Widerklage auf Feststellung, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde, abgewiesen.

Rechtliche Wertung

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Zwar steht die Wirksamkeit der Kündigung vom 31.07.2008 aufgrund des rechtskräftigen Urteils vom 02.06.2010 fest. Auf den erneuten Härtewiderspruch der Beklagten war die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage jedoch erneut abzuweisen und auf die Widerklage das Mietverhältnis zwischen den Parteien - diesmal auf unbestimmte Zeit - fortzusetzen, §§ 574c Abs. 1 Alt. 2, 574 Abs. 1, 574a Abs. 2 S. 2 BGB.

Da das Mietverhältnis zwischen den Parteien bereits mit Endurteil vom 02.06.2010 aufgrund eines Härtewiderspruchs der Beklagten fortgesetzt wurde, regelt sich die Entscheidung über die erneute Fortsetzung aufgrund eines Härtewiderspruchs des Mieters nach § 574c Abs. 1 BGB.

Einer erneuten Kündigung seitens der Klägerin bedurfte es bei einer Fortsetzung des Mietverhältnisses auf bestimmte Zeit nicht, weil das Mietverhältnis mit Ablauf der Fortsetzungszeit ohne weiteres endet und der Mieter die Mietsache herausgeben muss. Die Wirksamkeit der ursprünglichen Kündigung aus dem Jahr 2008 steht damit weiterhin fest.

Die Beklagten haben bereits in ihrer Klageerwiderung in erster Instanz vom 11.09.2014 die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach § 574 Abs. 1 BGB verlangt und unter Vorlage von Attesten ausdrücklich ausgeführt, dass die Härtegründe auf Seiten der Beklagten zu 2) „in vollem Umfang“ fortbestünden. Vorliegend können die Beklagten nach § 574c Abs. 1, 2. Alt. BGB die erneute Fortsetzung des Mietverhältnisses wegen der bestehenden und im Vorverfahren festgestellten Härtegründe verlangen, ohne dass eine wesentliche Änderung der Umstände eingetreten sein muss. Maßgeblich ist vielmehr nach § 574c Abs. 1 Alt. 2 BGB, ob sich der vom Amtsgericht seiner Prognose hinsichtlich der Bestimmung der Fortsetzungszeit zugrundeliegende Erwartung, dass sich der Gesundheitszustand der Beklagten zu 2) hinsichtlich ihrer Räumungsunfähigkeit verbessere, nicht eingetreten ist.

Aufgrund des von der Kammer erholten und von den Beklagten bereits in erster Instanz beantragten Sachverständigengutachtens steht zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass Härtegründe in der Person des Beklagten im Sinne von § 574 Abs. 1 BGB unverändert fortbestehen. Aufgrund des Krankheitsbildes, so der Sachverständige, könne im Falle einer Zwangsräumung eine Dekompensation bis hin zu einer akuten Suizidalität nicht ausgeschlossen werden.

Das Gericht hatte daher die Interessen der Klägerin und der Beklagten erneut gegeneinander abzuwägen. Die Härte, die für den Mieter oder seine Familie in der vertragsgemäßen Beendigung des Mietverhältnisses liegt, muss nach § 574 Abs. 1 BGB auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen sein. Im Rahmen dieser Abwägung ist zunächst festzuhalten, dass der rechtskräftig festgestellte Eigenbedarf der Klägerin weiterhin besteht und sie trotz einer bereits im Jahr 2008 ausgesprochenen Kündigung auch 8 Jahre später noch auf die Realisierung des Eigenbedarfes wartet. Trotzdem führt die Abwägung unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Beklagten dazu, dass diese aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigung des gegebenen Härteeinwandes überwiegen. Nach dem vorliegenden Gutachten führt die drohende Zwangsräumung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Dekompensation der schweren depressiven Symptomatik der Beklagten zu 2) bis hin zu einer Gefahr einer Suizidalität bei einem verfestigten chronifizierten Gesundheitszustand.

Auf die Widerklage der Beklagten war das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, § 574c Abs. 1, 2 S. 2 BGB. Auch bei einer ursprünglich befristeten Fortsetzung ist im Falle eines erneuten Härteeinwandes eine nunmehr unbefristete Fortsetzung des Mietverhältnisses möglich. Nachdem das Krankheitsbild der Beklagten zu 2) seit mehr als einem Jahrzehnt unverändert und chronifiziert ist, muss von einer nicht nur vorübergehenden Härte im Sinne des § 574 Abs. 1, 2 S. 2 BGB ausgegangen werden. Die Widerklage ist daher auch begründet. Die Kammer hat durch Gestaltungsurteil das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt.

Praxishinweis

§ 574 c BGB begründet einen Anspruch des Mieters auf weitere Fortsetzung eines bereits fortgesetzten Mietverhältnisses, das durch Zeitablauf geendet hat oder vom Vermieter gekündigt worden ist.

Eine Kündigung durch den Vermieter ist im Falle des § 574c Abs. 1 BGB nicht erforderlich, weil das Mietverhältnis mit dem Ablauf der Fortsetzungszeit ohne weiteres endet. Allerdings ist § 545 BGB zu beachten, wonach sich das Mietverhältnis stillschweigend verlängert, wenn der Mieter nach Ablauf der Mietzeit den Gebrauch der Mietsache fortsetzt. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen des § 574c Abs. 1 BGB vor, wonach der Mieter eine weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen kann, wenn dies durch eine wesentliche Änderung der Umstände gerechtfertigt ist oder wenn Umstände nicht eingetreten sind, deren Eintritt für die Zeitdauer der Fortsetzung bestimmt gewesen war, findet eine erneute umfassende Interessenabwägung der Belange des Vermieters und Mieters statt, bei der die gesamten neuen tatsächlichen Umstände zu würdigen sind (Schmidt-Futterer/Blank, MietR, 12. Auflage, § 574c Rn. 9). Ist ein Überwiegen der zugunsten des Mieters streitenden Härtegründe festzustellen, muss der Mieter auch im Anwendungsbereich des § 574c Abs. 1 BGB sein erneutes Fortsetzungsbegehren in der Form und Frist des § 574b BGB geltend machen, d.h. er muss den Widerspruch gegen die Kündigung schriftlich erklären; auf die Form- und Fristvorschriften kann nicht verzichtet werden (dafür Palandt/Weidenkaff Rn. 10; Schmidt-Futterer/Blank Rn. 10; wie hier MüKoBGB/Häublein Rn. 7; Staudinger/Rolfs Rn. 18), da eine inhaltliche Änderung im Rahmen des Mietrechtsreformgesetzes damit nicht verbunden sein sollte (vgl. Begr. RegE bei Grundmann MietRRG 160). Dasselbe gilt für die Pflicht des Vermieters auf den Widerspruch hinzuweisen gem. § 574b Abs. 2 S. 2 (BeckOK/Hannappel, Stand 01.11.2016, § 574c Rn. 9; aA MüKoBGB/Häublein, 7. Auflage, § 574 c BGB Rn. 7).

Redaktion beck-aktuell, 3. August 2017.

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